Das zweite Königreich
…«
»Verschwinde. Laß mich allein.«
»Meine Mutter hat mir Nachricht geschickt.«
Luciens Kopf fuhr zu ihm herum. Ohne die geringste Mühe kam er auf die Füße. »Was?« fragte er tonlos.
»Deine Schwester hat einen Wunsch geäußert. Sie bittet dich, nach Dover zu reiten und Odo herzuholen.«
»Bischof Odo? Ich verstehe nicht.«
»Es scheint, er ist ihr Beichtvater. Und sie wünscht …«
Luciens gesunder Arm hing ebenso kraftlos herab wie der verstümmelte. Seine bleichen Lippen bewegten sich tonlos, ehe er fragte: »Stirbt sie?« Seine Stimme klang heiser.
Cædmon sah in die graugrünen Augen, die es ihm immer so unmöglich machten, die Feindseligkeit dieses Mannes zu erwidern, und einen Moment war er nicht sicher, ob er es fertigbringen würde, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er wollte Luciens Schmerz nicht vermehren, und vor allem wollte er ihn nicht fortschicken, wo doch alles dafür sprach, daß seine Schwester nicht mehr leben würde, wenn er zurückkam. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Lucien mußte aus dem Wege sein, ehe Cædmon seinen Plan angehen konnte. Und mit jedem Herzschlag verrann kostbare Zeit.
Lucien senkte für einen Moment den Blick. »Cædmon, ich weiß, ich habe kein Recht, dich um etwas zu bitten, und du hast keinen Grund, mir einen Dienst zu erweisen, aber würdest du für mich nach Dover reiten? Ich muß in ihrer Nähe bleiben.«
»Du hast durchaus ein Recht, mich zu bitten, und ich würde dir gern einen Dienst erweisen, denn du hast letzten Winter erst mich und dann meine Schwester geschont, aber ich kann nicht. Der König will morgen früh nach London und hat mich angewiesen, ihn zu begleiten.«
»Dann muß ich einen Boten schicken.«
Cædmon schüttelte seufzend den Kopf. »Du weißt, wie ungern Odo Dover verläßt. Er würde auf keinen Boten hören. Es sei denn, wir wecken den König und bitten ihn …«
Lucien schnaubte unwillkürlich. »Bist du noch zu retten?« Er wandte sich ab und fuhr sich kurz mit der Hand über die Stirn. »Nein, du hast recht. Ich muß selbst gehen.« Aber er rührte sich nicht.
Cædmon spürte einen Hauch von Erleichterung, der ihm nicht den geringsten Trost brachte. »Je eher du aufbrichst, um so besser die Chancen, daß sie noch lebt, wenn du Odo herbringst«, riet er ohne allen Nachdruck.
Lucien nickte wortlos und ging zur Tür.
Cædmon sank vor dem Altar auf die Knie und betete, wie er selten in seinem Leben gebetet hatte. Er faltete die Hände und kniff die Augen zu, so wie er es als kleiner Junge getan hatte. Als wäre er Gott näher, wenn er die Welt aussperrte. Ich werde keine Gelübde ablegen, die ich brechen müßte, darum gelobe ich nicht, sie aufzugeben, wenn du sie leben läßt. Aber ich schwöre, daß ich die erbärmliche Holzbaracke von St. Wulfstan einreißen lasse und dir in Helmsby eine steinerne Kirche baue, sobald wir uns von dieser Mißernte erholt haben. Ein wahres Gotteshaus zu deinen Ehren, und wenn es für den Rest meiner Tage jeden Penny verschlingt, den ich verdiene. Nur, laß sie leben. Laß sie uns noch ein bißchen. Ihrem Bruder, ihrem Mann und mir …
Als er den dumpfen Hufschlag von Luciens Pferd im Hof hörte, stand er auf, eilte aus der Kapelle und begab sich selbst zum Pferdestall. Der verschlafene Knecht, der Luciens wackeren, ausdauernden Grauschimmel gesattelt hatte, lauschte mit kaum verhohlenem Unwillen, als auch Cædmon nach seinem Pferd verlangte, führte aber wenig später Widsith in den nächtlichen Hof hinaus.
»Was ist denn geschehen, Thane? Sind die Dänen gekommen?« fragte der junge Kerl und unterdrückte ein Gähnen.
Cædmon schüttelte den Kopf, schwang sich in den Sattel und warf dem Stallknecht einen Farthing zu. »Ich bin bald zurück. Vergiß, wen ich mitbringe, hast du verstanden?«
»Natürlich, Thane.«
Er fand das Haus ohne Mühe, denn inzwischen kannte er sich auch bei Dunkelheit in Winchester aus. Der Mond war noch nicht viel mehr als eine Fingernagelsichel, aber keine Wolke trübte den Himmel – Tausende und Abertausende von Sternen funkelten und tauchten die Gassen in ihren matten, kalten Glanz.
Er glitt zu Boden, führte Widsith am Zügel bis zur breiten Tür des hölzernen Hauses und hämmerte.
Es dauerte nicht lange, bis eine junge Männerstimme von drinnen in einer fremden Sprache eine Frage stellte.
Cædmon antwortete auf Normannisch: »Ich bin Cædmon of Helmsby.« Der Riegel rasselte, und das Tor öffnete sich einen Spalt. Im Schein einer kleinen
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