Das zweite Königreich
aufgehört … aber heute nicht.«
Es war ein undeutliches Keuchen, er hatte Mühe, sie zu verstehen.
Er blickte ins Stroh hinab und sah die dunkle, bräunliche Verfärbung, die sich fast kreisförmig um sie ausgebreitet hatte. Sie kniete mitten in einem See aus Blut.
Cædmon durchlebte einen Moment vollkommener Kopflosigkeit, eine Art von Panik, die jeden klaren Gedanken unmöglich machte. Eine so allumfassende Hilflosigkeit wie in dem Augenblick, als Harold Godwinsons Schiff zerborsten und er kopfüber in die schwarzen Fluten gestürzt war, mit der Gewißheit, daß er sterben würde.
Doch es verging so schnell, wie es gekommen war. Nach einem Moment der Starre kam er auf die Füße, riß sich den Mantel von den Schultern und faßte sie behutsam am Arm.
»Kannst du aufstehen?« Noch während er fragte, zog er sie in die Höhe. Sie gab ein leises, halb überraschtes Stöhnen von sich, dann knickten ihre Knie ein, und er sah einen neuerlichen Blutstrom zwischen ihren Füßen im Stroh versickern. Mit fahrigen Bewegungen hüllte er sie in seinen Mantel, während sie schon gegen ihn kippte, dann hob er sie auf und trug sie zur Tür. Er hatte Henry vollkommen vergessen, doch der kleine Junge folgte ihm dicht auf den Fersen.
Cædmon versuchte, ihren Kopf an seine Schulter zu betten, aber er fiel immer wieder baumelnd nach hinten. Ihre Lider flatterten; die Ohnmacht war nicht tief. Im dämmrigen Licht des eilig schwindenden Oktobernachmittages wirkte ihre Haut grau und fahl, ihre Lippen waren blutleer. Cædmon betete.
Als sie sich der Halle näherten, begegneten sie ein paar Menschen. Fast der erste, den Cædmon sah, war Lucien de Ponthieu. Er trug einen dunklen, dreckbespritzten Reisemantel und wirkte, als sei er gerade in größter Eile eingetroffen.
Cædmon war nicht verwundert. Er hatte schon öfter beobachtet, daß Lucien oder Aliesa plötzlich auf unerklärliche Weise zur Stelle waren,wenn der andere in Not war; er wußte, das Band war stark. Sein erster Impuls war, sie ihrem Bruder in die Arme zu legen, doch im letzten Moment besann er sich, daß Lucien keine zwei Arme mehr hatte und niemanden tragen konnte.
Cædmon blieb nicht stehen. »Halt mir die Tür auf. Ich weiß nicht, was es ist, Lucien, Henry hat mich zu ihr gebracht.«
Lucien ging neben ihm her und nahm die Hand seiner Schwester in seine. »Wo ist Etienne?«
»Mit seinem Vater in Flandern.«
Lucien sah fassungslos auf die dicken roten Tropfen hinab, die eine Spur über den Korridor legten. »Sie braucht einen Arzt.«
»Meine Mutter ist hier. Wir müssen nach ihr schicken. Vielleicht kann sie etwas tun.«
Marie war bald am Ende ihrer Weisheit. Am späten Abend suchte sie Cædmon, den sie ebenso aus dem Zimmer der Kranken verwiesen hatte wie deren Bruder, kurz in seinem Quartier auf. Es war eine zugige kleine Kammer im Obergeschoß des teils aus Stein und teils aus Holz errichteten Bauwerks, die er meist mit zwei oder drei anderen unverheirateten höhergestellten Rittern teilte, wie Roland Baynard etwa oder jetzt wieder Lucien de Ponthieu. Doch im Augenblick war er allein. Lucien war in der Kapelle.
»Ich habe getan, was ich konnte, Cædmon, aber ich fürchte, es wird nicht reichen.«
Er saß einen Augenblick reglos auf seinem Strohlager. Dann vergrub er das Gesicht in den Händen.
»Ich denke, es ist besser, du kommst mit mir.«
Er hob den Kopf. »Warum?«
Marie sah ihn an. »Jetzt ist nicht der richtige Moment für Heucheleien. Sie fragt immerzu nach dir.«
Er stand langsam auf. Seine Glieder kamen ihm vor wie aus Blei gegossen.
»War es dein Kind?« Es klang beinah so, als hätte sie ihm so etwas nie zugetraut.
Er nickte. »Wahrscheinlich.«
»Verstehe«, murmelte Marie. »Ja, ich glaube, jetzt wird mir so einiges klar.«
»Verblutet sie?«
»Vielleicht. Aber selbst wenn nicht, sterben wird sie auf jeden Fall.« Er blinzelte einen Moment. »Woran?«
»Welche Rolle sollte das spielen? Kommst du nun, oder kneifst du lieber?«
Wortlos hielt er seiner Mutter die Tür auf und folgte ihr dann leise den dämmrigen, nur von wenigen Fackeln erhellten Korridor entlang und eine Treppe hinunter.
Als sie an die Tür zu Aliesas Gemach kamen, raunte Marie: »Heul ihr nichts vor, hörst du.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich hoffe, ihr Bruder wählt nicht gerade diesen Moment, um herzukommen«, fuhr sie leise fort und legte die Hand auf den Riegel.
»Wenn er es tut, sag ihm, sie habe nach mir geschickt, um mir einen letzten Gruß an ihren
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