Das zweite Königreich
als sein Bruder für die Jungen zu intervenieren versuchte, blieb William unerbittlich.
»Ich weiß, daß es furchtbar ist, Robert, aber es ist notwendig. Sie sind alt genug, das zu begreifen, und es wird Zeit, sie daran zu gewöhnen.«Der einzige, der von der tagelangen Blutorgie unberührt zu bleiben schien, war Lucien de Ponthieu, der die Oberaufsicht über die Bestrafungen führte. Jedenfalls nahm Cædmon das an, bis er am Abend des dritten Tages, als das Werk getan und endlich, endlich Stille eingekehrt war, auf einem Spaziergang außerhalb der Klostermauern durch ein kleines Gehölz kam und ihn dort fand. Lucien hatte sich in den Schutz eines Haseldickichts verkrochen, um sich, wie Cædmon Etienne später berichtete, die Seele aus dem Leib zu kotzen.
Etienne zeigte keine große Überraschung. »Ja, ja. So ist er, mein Schwager. Ein butterweicher Kern in einer sehr, sehr rauhen Schale. Mein Herz schlägt für ihn, ehrlich.«
Cædmon bedachte seinen Freund mit einem vorwurfsvollen Blick. »Komm, komm. Was hättest du denn gemacht, wenn der König dir diese ehrenvolle Aufgabe übertragen hätte?«
Etienne neigte den Kopf zur Seite, malte mit dem Finger unsichtbare Muster auf den groben Holztisch im Refektorium, an dem sie saßen, und schien angestrengt nachzudenken. »Vermutlich hätte ich es getan. Ich meine, es ist ja nicht so, als hätten diese Rebellen es nicht verdient. Aber mach dir keine allzu großen Illusionen über Lucien. Der König weiß schon, warum er ihn immer für diese Dinge auswählt. Lucien ist in vieler Hinsicht ein würdiger Nachfolger für Jehan de Bellême: ein Mann fürs Grobe. Er hat keine Gefühle, wie man sie Menschen allgemein nachsagt.«
Cædmon war anderer Ansicht. »Nun, jedenfalls liebt und verehrt er seine Schwester.«
Etienne nickte. »Richtig. Sie und Beatrice Baynard.« Er lachte über Cædmons Schreckensmiene, die sich praktisch immer zeigte, sobald dieser Name fiel. »Ach, Cædmon, alter Freund, beiß endlich in den sauren Apfel und heirate das Mädchen. Ohne Verbindung zum normannischen Adel wirst du nie Sheriff von Norfolk werden.«
Cædmon starrte ihn entgeistert an. »Wie kommst du auf den Gedanken, daß ich das je werden könnte?«
»Weil es der Wunsch des Königs ist. Sag nicht, der Gedanke sei dir noch nie gekommen. Warum sonst hat er dir so viele Ländereien in der Gegend gegeben? Warum sonst sollte er so darauf drängen, daß du Beatrice heiratest, statt die Tochter irgendeines königstreuen englischen Thane?«
»Aber … aber ich will nicht Sheriff werden.«
Etienne wandte den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Doch, Cædmon. Du wirst wollen. Morcar ist erledigt und wird auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Damit bleiben Waltheof of Huntingdon und du als die letzten angelsächsischen Adligen von Bedeutung im normannischen England. Und ich bin sicher, wenn du darüber nachdenkst, wirst du feststellen, daß du soviel Macht und Einfluß brauchst, wie du nur kriegen kannst. Herrgott noch mal, warum sträubst du dich so sehr dagegen, sie zu heiraten?«
Cædmon hob abwehrend die bandagierte Linke und rieb sich das Kinn an der Schulter. »Ich liebe eine andere.«
Etienne brach in schallendes Gelächter aus. »Und das ist alles?«
3. BUCH
Doch viele, die edel und dem König treu ergeben schienen, verbündeten sich mit seinen Feinden und verrieten ihre Brüder und Väter und ihren obersten Lehnsherrn. So litt das Reich mehr unter den Seinen denn der Kriegswut seiner Feinde und wurde von einer inneren Krankheit verzehrt.
Ordericus Vitalis, Historia Ecclesiastica
Exning, August 1075
»Der Thane of Helmsby!« rief der Bräutigam erfreut aus. »Wie schön, daß Ihr uns an diesem Tag beehrt.«
Cædmon schüttelte ihm die Hand. »Viel Glück und Gottes Segen, Ralph.« Dann verneigte er sich vor der Braut. »Das wünsche ich auch Euch, Emma.«
Mit lachenden Augen strahlte sie ihn an. »Danke, Cædmon.«
Es war das erste Mal seit etwa zehn Jahren, daß er sie wiedersah, und er war nicht verwundert festzustellen, daß sie eine Schönheit geworden war. Schließlich war sie Etienne fitz Osberns Schwester.
Er machte den übrigen Gratulanten Platz, die schon ungeduldig herandrängten, und trat zu Etiennes und Emmas älterem Bruder. »Gut daß wenigstens Ihr in England seid, Roger, sonst hätte Emma mutterseelenallein zum Kirchenportal schreiten müssen.«
Roger fitz Osbern hatte zu helle Haare und zu kantige Züge, um seinen schönen Geschwistern ähnlich zu sein, aber
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