Das zweite Königreich
seiner langjährigen Weggefährten ständig ignorierte und überging. Das galt nicht zuletzt für Etiennes Bruder Roger, der gerade auf ihn zuwankte und sich ihm gegenüber auf einen freien Platz sinken ließ.
»Cædmon.«
»Roger.«
»Ist es nicht herrlich, wenn zwei Menschen heiraten?«
Cædmon beäugte ihn argwöhnisch. »Ich hoffe, Ihr wollt Euch nicht der Zermürbungskampagne anschließen, die Bischof Odo gegen mich führt?«
Roger blinzelte. »Was?«
»Oh … gar nichts. Ja, eine Hochzeitsfeier ist immer eine bewegende Sache.«
»Hm. Ich wünschte, Etienne wäre hier. Er wäre so froh, unsere Emma so strahlend und glücklich zu sehen.«
»Das glaube ich auch.«
Roger sah ihn eulenhaft an. »Er liebt Euch mehr als jeden seiner Brüder, wißt Ihr. Etienne, meine ich.«
»Ja, ja. Ihr seid sturzbetrunken, Roger.«
»Stimmt. Würdet Ihr mir einen Gefallen tun?«
»Wenn er sich im Rahmen vernünftiger Grenzen bewegt, sicher.«
»Ihr geht zurück an den Hof, richtig?«
Cædmon nickte. »Ich bleibe ein paar Tage in Helmsby, wo ich schon mal in der Nähe bin, aber dann kehre ich nach Winchester zurück.« »Würdet Ihr meine Schwägerin mitnehmen?«
»Wie bitte?«
»Aliesa. Sie sollte mit mir nach Hereford zurückkommen, aber …«, er kicherte verschwörerisch, »ich habe unterwegs ein paar Dinge zu erledigen, wobei ich keine Zeugen gebrauchen kann, versteht Ihr.«
»Natürlich. Wer ist denn die Glückliche?«
Fitz Osbern grinste entwaffnend. »Tut Ihr mir den Gefallen?«
Cædmon schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wie stellt Ihr Euch das vor? Ich reise allein und …«
»Oh, keine Bange. Ich gebe Euch eine Wache zur Begleitung mit und finde eine Anstandsdame für Aliesa.«
»In dem Falle, bitte.«
Fitz Osbern atmete erleichtert auf. »Ich wußte, auf Euch ist Verlaß.«
Cædmon konnte sein Glück kaum fassen. Nur begleitet von zwei von fitz Osberns Rittern und Ralph de Gaels fünfzehnjähriger Cousine Anne, die nach dem tödlichen Jagdunfall ihres greisen Gatten und einer angemessenen Trauerzeit nun an den Hof und damit auf den Heiratsmarkt zurückkehrte, brachte er Aliesa am nächsten Tag nach Helmsby und erfüllte sich damit einen langgehegten Traum.
Es waren etwa zwanzig Meilen von Exning, doch weil sie fast den ganzen Weg der königlichen Straße folgen konnten, die London mit Norwich verband, und weil die Damen nichts dagegen hatten, zügig zu reiten, war es kaum mehr als ein halber Tagesritt.
Aliesa sah sich mit leuchtenden Augen um. »Wer behauptet, East Anglia sei ein flaches Ödland?«
»Euer Bruder, zum Beispiel, Madame«, antwortete Cædmon.
»Aber meine Augen sehen dort drüben eine Hügelkette.« Sie wies auf die welligen Anhöhen östlich von Exning.
»Man nennt sie die ›Downs‹«, erklärte er. »Und die Leute sagen, das Gras auf diesen Hügeln würde bis in den Himmel wachsen, wenn die Schafe es nicht abfräßen. Wenn man ein Stück in die Downs reitet, kommt man an einem Steilhang mit einem Weißen Pferd vorbei.«
»Ein weißes Pferd?«
Cædmon nickte. »Es gibt sie hier und da in ganz England. Irgendwer hat vor langer Zeit das Gras und Gebüsch auf diesem Hügel so zurückgeschnitten, daß der kreideweiße Felsen darunter sichtbar wird, und zwar in Form eines Pferdes. Irgendwer schneidet es immer noch bei.« Aliesa schnalzte in gespielter Mißbilligung mit der Zunge. »Das klingt sehr heidnisch. War es nicht der Gott Odin, dem Eure Vorfahren Pferdeopfer darbrachten?«
»Stimmt. Genau wie Eure Vorfahren.« Sie lachten, aber dann fuhr er kopfschüttelnd fort: »Die Weißen Pferde waren schon lange vor der Ankunft der Angelsachsen hier. Ich vermute, das Alte Volk hat sie gemacht.«
»Und was ist das dort drüben?« Sie wies nach links, wo sich im typisch flachen Gras- und Schilfmeer der Fens ein langgezogener Wall bis zum Horizont erstreckte. »Es sieht beinah aus wie von Menschenhand gemacht.«
»Ist es auch. Die Leute hier nennen es den Teufelsdeich. Es heißt, die Angeln von East Anglia haben ihn zum Schutz gegen ihre nördlichen Nachbarn in Mercia gebaut, kurz nach der Besiedlung.«
»Wer waren denn diese nördlichen Nachbarn? Sachsen? Jüten?«
»Nein, auch Angeln. Aber sie haben sich trotzdem nicht vertragen.« Er hob lächelnd die Schultern. »Damals waren wir ein kriegerisches Volk und ließen uns nicht so einfach erobern wie heute.«
Er war nicht wirklich überrascht, daß sie zu den wenigen Menschen gehörte, die der stillen Gleichförmigkeit der
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