Das zweite Königreich
mir leid, Hyld. Ich hatte ehrlich keine Ahnung, daß er so krank ist.«
»Ihr hättet nur nachsehen müssen, um es festzustellen!«
»Aber ich wollte nichts davon wissen. Es fiel mir so schon schwer genug, angemessen zornig auf ihn zu sein. Ich habe ihn zu gern.«
Seine Offenheit entwaffnete sie einen Moment, doch dann versetzte sie eisig: »Diese befremdliche Anwandlung habt Ihr in bewunderswerter Weise niedergerungen, Monseigneur.«
»Ja«, gestand der Bischof kleinlaut. »Ich bin sicher, das gleiche würde mein Bruder auch sagen. Ihr dürft nicht vergessen, Hyld, daß Cædmon ein sehr schweres Verbrechen begangen hat.«
Sie sah unglücklich auf ihren todkranken Bruder hinab und tupfte ihm behutsam mit dem Ärmel über die feuchte Stirn. »Ich weiß nicht, wasich machen soll. Meine Mutter könnte ihm vielleicht helfen, aber sie wird nicht kommen.«
»Wirklich nicht?« fragte Odo überrascht.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat mir gesagt, sie will ihn nicht wiedersehen, ehe seine Ehre wiederhergestellt ist. Und sie meint, was sie sagt.«
»Ja, ich weiß. Ich bin trotzdem verwundert. Sie wußte seit Jahren von Cædmon und Aliesa.«
Hyld hob langsam die Schultern. »Meine Mutter ist Normannin, Monseigneur.«
»Und das bedeutet?«
»Nicht das Vergehen selbst zählt in ihren Augen. Nur die öffentliche Schande.«
Odo verzog schmerzlich das Gesicht. »Ihr haltet uns also für ein Volk von Heuchlern?«
»Ja.«
»Das ist bedauerlich, Madame. Aber Etikette und Aufrichtigkeit schließen einander nicht aus«, sagte er leise. Er blickte einen Moment auf Cædmon hinab, ehe er fortfuhr: »Ich habe einen Boten nach Winchester geschickt. Morgen wird er mit einem Arzt zurückkommen, der vielleicht etwas für ihn tun kann.«
»Ihr meint den Juden? Aber er und seine Familie sind Etienne fitz Osbern ganz und gar ergeben. Sie werden keinen Finger für Cædmon rühren.« Odo schüttelte langsam den Kopf. »Sie machen Geschäfte mit fitz Osbern und schätzen ihn, aber sie sind ihm nicht ergeben. Sie sind klug genug, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Und ich hoffe, das bedeutet, daß sie in einer Fehde zwischen einem normannischen und einem englischen Edelmann Neutralität wahren.«
Cædmon hatte begonnen, keuchend und stoßweise zu atmen. Er warf sich auf die Seite, sein Körper krampfte sich zusammen, und mit erstaunlicher Kraft und unter leisem Klirren traten seine Füße die leichte Decke weg. »Richard«, jammerte er erstickt. »Hüte dich vor dem verfluchten Wald, Richard …«
Odo wandte sich abrupt ab, entdeckte den Wachsoldaten, der unentschlossen nahe der Tür wartete, und herrschte ihn an: »Nehmt ihm endlich die verdammten Ketten ab!«
»Ja, Monseigneur.«
Mit langen Schritten stürmte der Bischof hinaus.
Hyld war ratlos. Sie wußte überhaupt nicht, was ihrem Bruder fehlte. Es war kein Lungenfieber, wie sie ursprünglich angenommen hatte, denn er hustete nicht und warf kein Blut aus. Sie tat, was sie auch mit ihren beiden Söhnen machte, wenn diese hohes Fieber hatten: Sie ordnete an, ein kühles Bad zu bereiten. Als es angerichtet war, hieß sie die Wachen, Cædmon in den hölzernen Zuber zu legen, und scheuchte sie dann hinaus. Sobald sie mit ihrem Bruder allein war, schnitt sie die Lumpen von seinem mageren, geschundenen Körper, hielt seine Brust mit einem Arm umklammert, damit er nicht unterging, schöpfte kaltes Wasser und ließ es ihm über den Kopf fließen.
Das verfehlte seine Wirkung nicht. Cædmons Atmung wurde ruhiger, und schließlich schlug er die Augen auf. Sie waren fiebrig, die Pupillen unnatürlich geweitet, aber klar.
»Hyld?«
»Ja, Bruder.«
»Was … was tust du hier?«
»Ich rasiere dich.« Wie zum Beweis hielt sie die scharfe Klinge hoch. »Warum weinst du?«
»Sieh dich doch mal an.«
»Nein … nein, lieber nicht.«
Er ließ den Kopf zurücksinken und fand ein himmlisch weiches Kissen. Ein Teil seines Verstandes wußte, daß es die Brust seiner Schwester war, aber er war zu krank und verwirrt, um sich zu genieren. Sein Kopf war bleischwer, ihm war schwindelig, und ständig wurde ihm schwarz vor Augen. Aber er war in einem Raum voller Sonnenlicht, lag in den Armen seiner Schwester statt in seinem eigenen Dreck in einem lichtlosen, eisigen Verlies. Er fühlte sich sauber und getröstet, als er wieder einschlief.
Nach und nach nahm die Welt Formen an, und er stellte fest, daß sein ganzes Blickfeld von einem bärtigen Gesicht mit langen Schläfenlocken ausgefüllt
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