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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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und seiner Ansicht nach hatte er inzwischen wohl für mehr Sünden gebüßt, als ein Mann in einem Leben begehen konnte. Wenn Jehan de Bellême das tatsächlich länger als ein Jahr überstanden hatte, dann war er kein Mensch, sondern ein Satan, wie Cædmon insgeheim immer vermutet hatte. Er wußte, in der Welt draußen mußte längst Frühling sein, aber hier unten war es immer noch so eisig kalt, daß sein Atem weiße Dampfwolken bildete. Die sah er allerdings nur, wenn gelegentlich ein Wachsoldat mit einer Fackel kam, um ihm ein paar Abfälle zu bringen. Er hatte keine Decke. Auch keinen Mantel. Er hatte nichts. Und weil er schon geschwächt und in tiefer Melancholie hierhergekommen war, hatte er Kälte, Dunkelheit und Hungerauch überhaupt nichts entgegenzusetzen. Kampflos ergab er sich dem Fieber. Es war ihm sogar willkommen, denn es entrückte ihn von diesem Ort der Finsternis in eine lichte, zunehmend grelle Welt der Phantasie.
    Wenn er bei klarem Verstand war, versuchte er zu essen und seine gefühllosen Glieder zu bewegen, aber bald war er zu schwach, sich zu regen oder das steinharte Brot zu kauen, und er spürte auch keinen Hunger mehr. Also bekamen die Ratten alles, was die Wachen ihm brachten. Er wußte, daß er starb. Manchmal erfüllte der Gedanke ihn mit Entsetzen, manchmal weinte er vor Einsamkeit, vor Verzweiflung, weil er niemanden mehr hatte, der kommen und ihm helfen würde, bis das Fieber wieder anstieg und ihn einhüllte wie eine warme, tröstliche Decke.
    Er schreckte zusammen, als der Riegel rasselte. Seit ein oder zwei Stunden war er wach, so wach wie seit Tagen nicht mehr, schien es ihm. Wie schon einige Male zuvor war das Fieber heftigem Schüttelfrost gewichen, und er lag zitternd, mit klappernden Zähnen wie ein Kind im Mutterleib zusammengerollt am Boden, als die Wache mit der Fackel in der Faust über die Schwelle trat.
    Cædmon starrte stumm und blinzelnd zu dem vierschrötigen Mann in Helm und Kettenhemd auf, der einmal kurz seine Fackel über ihn schwenkte, kehrtmachte und wieder nach draußen trat.
    »Da ist nichts mehr zu machen, Monseigneur«, hörte Cædmon ihn sagen. »Der ist hinüber.«
    »Ist er tot?« Bischof Odos Stimme, erkannte Cædmon verblüfft. Er versuchte, sein Zähneklappern zu unterdrücken, damit er besser hören konnte, was draußen gesagt wurde.
    »So gut wie«, antwortete der Soldat.
    Wieder wurde es hell, als Odo selbst mit der erhobenen Fackel auf der Schwelle erschien. Unbewegt sah er auf Cædmon hinab. Weder Mitgefühl noch Ekel oder Genugtuung waren seinem Gesicht anzusehen, obwohl Cædmon einigermaßen sicher war, daß es diese drei Empfindungen waren, die der Bischof so sorgsam verbarg.
    Ihre Blicke trafen sich einen Moment. Dann schloß Cædmon einfach die Augen und wandte den Kopf ab, um dem grellen Schein der Flamme zu entkommen. »Geht doch weg.«
    Die Dunkelheit kehrte zurück, und er biß die klirrenden Zähne noch fester zusammen, um Odo nicht zurückzurufen, ihn nicht anzuflehen.Doch der vertraute, dumpfe Laut, mit dem die Tür sich schloß, blieb aus. Statt dessen kamen zwei Wachen herein und sahen einen Moment unentschlossen auf ihn hinab.
    »Ich schätze, dieses Knochengerüst schaff ’ ich so gerade noch allein«, bemerkte der eine verächtlich.
    Cædmon wich instinktiv zurück, als der Mann sich über ihn beugte, aber das half nichts. Der Soldat packte die Kette seiner Handfesseln, zerrte ihn daran roh in die Höhe, und als Cædmon in sich zusammensackte, packte er ihn und warf ihn sich über die Schulter. Jeder Blutstropfen, den er noch in sich hatte, schien Cædmon in den Kopf zu schießen, der so grauenhaft zu hämmern anfing, daß er den Mund öffnete, um zu protestieren. Aber ehe er einen Ton herausgebracht hatte, wurde er ohnmächtig.
     
    Als Hyld ihren Bruder sah, war ihr erster Gedanke, diesen gottverdammten normannischen Bischof bis in den hintersten Winkel der Hölle zu verfluchen und das unheilige Abkommen aufzukündigen. Sie nahm Cædmons glühend heiße Hand und legte sie auf ihre Wange. Die Ketten klirrten.
    »Kannst du mich hören?« fragte sie leise.
    Cædmon zeigte keinerlei Reaktion. Fassungslos starrte sie in das ausgemergelte Gesicht. Der lange, zottelige Bart, der es zur Hälfte bedeckte, war verfilzt und fast völlig grau. Das erschütterte sie auf seltsame Weise mehr als alles andere.
    Als sie leise Schritte hinter sich hörte, fuhr sie herum. »Ihr …«
    Odo hob abwehrend die rechte Hand. »Ja, ich weiß. Es tut

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