Das zweite Königreich
gleiten, hockte sich hinter ihn und stützte seinen Oberkörper. Dann sah er auf. »Sire, Ihr täuscht Euch. Etienne fitz Osbern hat die Nachhut nicht angestiftet, Euch anzugreifen. Es ist passiert, nachdem er verwundet wurde.«
»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte William verblüfft. »Habt Ihr es gesehen? Eure Augen müssen sehr scharf sein. Ihr wart schließlich vorne; die ganze Schlacht lag zwischen Euch und der Nachhut.«
»Ich habe es nicht gesehen.«
»Dann könnt Ihr auch nicht wissen, daß es so war.«
»Ich weiß es.«
Der König winkte ab, ließ sich ächzend auf einen harten Holzstuhl fallen und nahm einen untypisch tiefen Zug aus dem Weinbecher, der auf dem Tisch stand. »Ihr seid nur sentimental, Cædmon. Er war Euer Freund, Ihr habt ihn betrogen, jetzt plagt Euch Euer Gewissen, und Ihr wollt etwas gutmachen. Ich hingegen bin in der Lage, unvoreingenommen zu urteilen, und sehe den Tatsachen ins Auge: Ich habe ihm die Nachhut unterstellt, und das war ein Fehler. Ich hätte ihm nie trauen dürfen. Sein Verrat hat mir heute das Kreuz gebrochen, und ich höre das schallende Gelächter meiner Feinde bis hierher.«
Cædmon schüttelte entschieden den Kopf. »Ihr seid nicht unvoreingenommen, Sire. Ihr seid zornig und sucht ein Opfer, an dem Ihr Euren Zorn auslassen könnt. Und Ihr verurteilt Etienne, weil sein Bruder Euch verraten hat.«
Der König schoß von seinem Stuhl hoch. »Gebt acht, was Ihr redet, Thane, sonst sperre ich Euch zusammen mit ihm ein! Dann hättet Ihrviel Zeit und Muße, Euch mit Eurem teuren Freund auszusöhnen. Darüber hinaus hat nicht nur einer seiner Brüder mich verraten, sondern beide! Und seine Schwester obendrein!«
»Aber sein Vater war Euer treuester Vasall!« entgegnete Cædmon ebenso hitzig.
»Ja. Ein großartiger Mann, geschlagen mit einer Brut wertloser Schwächlinge von Söhnen! Gott hat ihm eine große Gnade erwiesen, indem er ihn zu sich rief, ehe sie alle ihr wahres Gesicht zeigten! Und jetzt schert Euch hinaus!«
Cædmon ließ Etienne ganz zu Boden gleiten, sah einen Moment auf das ebenmäßige, jetzt friedvolle Gesicht hinab und kam dann schwerfällig auf die Füße. Jeder Knochen tat ihm weh nach diesem Tag auf dem Schlachtfeld, und er fühlte sich dumpf vor Erschöpfung.
»Ja, Sire, ich gehe. Aber wenn Ihr erlaubt, würde ich gern erfahren, wie Rufus in dieser Sache denkt.«
Der Prinz hatte reglos in einer dunklen Ecke des schwach beleuchteten Zelts gestanden. Als sein Vater keine Einwände erhob, trat er einen Schritt näher, blickte bekümmert auf den bewußtlosen Mann am Boden und sah Cædmon dann in die Augen. »Ich teile die Ansicht meines Vaters, Cædmon.«
Du elender Feigling, dachte Cædmon angewidert. Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Wie ist das möglich? Du … du kennst ihn doch.« »Ja. Aber du vergißt den kleinen Zwischenfall an Heiligabend.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Tatsächlich nicht? Du warst im Rosengarten und wurdest niedergeschlagen. Etienne fitz Osbern fand dich – angeblich – und brachte dich zu Wulfnoth. Ich habe ihn auf dem Weg dorthin gesehen, und er war nicht allein. Hugh de Bernay und Rollo fitz Alan waren bei ihm. Beide sind heute in der Nachhut geritten, beide sind tot. Also können wir sie nicht mehr befragen, aber das ist wohl auch nicht nötig. Es war ein Verschwörertreffen, das dort im Rosengarten stattgefunden hat, und sie haben dich von hinten niedergeschlagen, damit du sie nicht siehst. Vermutlich war es fitz Osbern selbst.«
Cædmon starrte ihn betroffen an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Du mußt dich irren.«
Rufus’ Blick war voller Mitgefühl. »Ich glaube nicht, Cædmon. Offenbar bist du derjenige, der sich in Etienne fitz Osbern getäuscht hat.«
Rouen, April 1079
Bei ihrer Rückkehr erwartete sie die Nachricht, daß Malcolm von Schottland in Northumbria eingefallen war und das Land nördlich des Tees verwüstete. Darüber hinaus erwarteten sie der Earl of Shrewsbury, Roger Montgomery, Hugh de Grandmesnil, der greise Roger de Beaumont und eine Schar weiterer mächtiger normannischer Adliger, deren Söhne, Brüder oder Neffen sich Roberts Rebellion angeschlossen hatten und gegen den König ins Feld gezogen waren. Aus England und den entlegensten Winkeln der Normandie waren sie nach Rouen gekommen, um zu vermitteln, den König zu überreden, mit Robert zu verhandeln und diesen Zwist zu beenden, der das anglo-normannische Reich spaltete und Kräfte vergeudete, die
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