Das zweite Königreich
weiß Gott allein. In Grönland oder noch weiter. Dieses Jahr kommt er sicher nicht mehr heim.«
Aliesa betrachtete ihre Schwägerin mitfühlend. »Das kann nicht leicht für dich sein.«
»Nein.« Es war sogar kaum auszuhalten. Sie sehnte sich nach ihrem Mann und sorgte sich um ihn, jeden Tag, jede Stunde. Doch sie sagte scheinbar ergeben: »Aber damit muß jede Frau leben, die einen Seefahrer heiratet.«
»Nicht alle bleiben immer gleich jahrelang fort«, wandte Irmingard mißfällig ein. »Erik ist genau wie unser Vater. Er konnte der See auch nicht widerstehen. Als Mutter starb und Erik mit ihm fuhr, wurde es ganz schlimm. Vater kam einfach nicht mehr nach Hause, obwohl er genau wußte, wie es Leif und mir im Haus seines Bruders erging. Ich bin sicher, sein Gewissen hat ihn auch manchmal geplagt. Aber der Ruf der See war stärker.«
Hyld griff nach ihrem Stickrahmen und senkte den Kopf darüber. »Ja. Die See ist stärker.«
»Nun, dein Bruder Leif ist jedenfalls kein Seefahrer geworden«, sagte Aliesa zu Irmingard.
»Nein«, stimmte die junge Frau des Stewards zu. »Er war immer eifersüchtig auf die See, weil sie ihm seinen Vater und seinen Bruder gestohlen hat.«
Aliesa sah einen Augenblick auf Hylds gesenkten Kopf hinab und fand, es sei an der Zeit, das Thema zu wechseln. »Was würdest du davon halten, wenn du und Alfred in Maries Zimmer zieht, Irmingard? Dann könnte Hyld eure Kammer haben, und alle hätten mehr Platz.«
Irmingard sah unsicher zu Hyld. »Wärst du einverstanden?«
Hyld hob den Kopf für einen Moment und lächelte ihr zu. »Natürlich. Wann wirst du endlich aufhören, dich wie ein schlecht gelittener Gast in diesem Haus zu fühlen, Irmingard? Es ist dein Zuhause, und du bist die Frau des Stewards. Ich bin diejenige, die sich hier ungebeten einquartiert hat.«
»Ich glaube, es gibt einige in diesem Haushalt, die sagen würden, daßich diejenige sei«, bemerkte Aliesa trocken, und alle drei lachten. Dann stand sie auf. »Laßt uns einen Rundgang machen, ja?«
Irmingard erhob sich ebenfalls. Auch Hyld legte ihr Stickzeug beiseite. »Gib nichts auf die finsteren Blicke der alten Helen, Aliesa«, riet sie. »Sie ist ein Drachen, aber sie versteht ihr Handwerk, und weil sie so furchtbar knauserig ist, wird bei ihr nie etwas verschwendet.«
Sie kann so finster dreinschauen, wie sie will, solange sie tut, was ich sage, dachte Aliesa flüchtig, aber was sie antwortete war lediglich: »Ihr müßt mir raten, wo ich mich am besten nach ein paar zusätzlichen Dienstboten umsehen soll.«
Hyld stieg neben ihr die Treppe hinauf und bemerkte achselzuckend: »Wenn du hier auf dem Gut keine geeigneten Leute findest, mußt du nach Norwich zum Sklavenmarkt.«
Aliesa verzog unwillkürlich das Gesicht. »Das kommt nicht in Frage. Ich dachte, der König habe die Sklavenmärkte verboten?«
»Nun ja, möglich«, antwortete Hyld ausweichend. Wie dem auch sein mochte, es gab die Märkte jedenfalls noch. Wie so viele Dinge, die der König verboten hatte. Die Normannen rümpften ihre vornehmen Nasen über die Sklavenhaltung in England, behandelten ihre leibeigenen Bauern aber keinesfalls besser. Außerdem hatte sie noch von keinem Normannen gehört, der die Sklaven, die er mit seinen englischen Ländereien bekommen hatte, freigelassen hätte. Hyld fand sie scheinheilig. Doch vielleicht war heute nicht der richtige Tag, um über solche Dinge zu reden. Der schlimmste Bauernschinder von Norfolk kam ihr in den Sinn, und sie fragte: »Weiß dein Bruder eigentlich schon, daß du hier bist?«
Aliesa schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ich muß ihm einen Boten schicken. Aber ich schiebe es lieber noch ein bißchen vor mir her.«
»Er kriegt den Hals einfach nicht voll, Cædmon«, berichtete Alfred mit besorgt gerunzelter Stirn. »Er will immer noch mehr Land, vor allem dann, wenn es dir gehört. Er treibt die Pacht in Ashby ein und hat die freien Bauern so lange drangsaliert, bis jeder ihm sein Land überschrieben hat.«
Sie ritten Seite an Seite durchs Dorf. Auf der großen Wiese waren Männer und Frauen dabei, das Gras für die Heuernte zu mähen. Als der Thane und der Steward vorbeikamen, ließen sie die Sensen sinken und grüßten.
Cædmon lächelte zerstreut, grollte jedoch leise: »Aber Ashby gehört zu Blackmore, das weiß jedes Kind.«
Alfred nickte. Der kleine Weiler am Nordufer des Yare hatte zum Land ihres Onkels gehört; sie beide hatten ihn oft genug sagen hören, Ashby sei die Perle
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