Das zweite Königreich
die Sonne genau im Auge behalten, und in dem Moment, da sie untergeht, muß das Feuer entzündet werden. Es ist ein uralter, heidnischer Brauch, verstehst du. Die lebensspendende Kraft der Sonne geht über ins Feuer. Es wird mächtig aufgeschürt, die Flammen müssen so hoch wie möglich schlagen. Denn es heißt, das Korn wird so hoch wie die Flammen des Mittsommerfeuers. Und das ist der Zeitpunkt, da du und ich uns zurückziehen werden.«
Sie nahm den Metbecher, den er ihr hinhielt, und trank, ehe sie fragte: »Und was geschieht, nachdem wir uns zurückgezogen haben?«
»Die Leute singen und tanzen ums Feuer, bis es heruntergebrannt ist. Dann springen die jungen Burschen für ihre Angebeteten übers Feuer. Wer es als erster wagt, ist ein großer Held. Und nach und nach wird es am Feuer immer leerer und stiller, während die Paare sich allesamt in Feen verwandeln und im Gebüsch verschwinden …«
Sie zog erschrocken die Luft ein und lachte, halb schockiert, halb belustigt. »Cædmon! Ist das wahr?«
Er nickte mit einer Grimasse komischer Zerknirschung. »Ich fürchte, ja. Wie gesagt, es ist ein sehr alter Brauch. Ein, ähm … Fruchtbarkeitsritus, verstehst du.«
»O ja.«
»Er stammt aus der Zeit, ehe die Angeln und Sachsen das alte Britannien eroberten. Es heißt, die jungfräulichen Priesterinnen jener Zeit gaben sich in der Mittsommernacht eigens dafür ausgesuchten Männern hin, die anschließend verbrannt wurden, um sie ihrer Göttin zu opfern.«
Sie verzog das Gesicht. »Das ist ja gräßlich.«
»Und vermutlich nicht wahr, aber ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich weiß nur, daß die Eroberer immer häßliche Lügen über die Eroberten erfinden, um deren Unterdrückung zu rechtfertigen. So wie Warenne behauptet, alle Northumbrier seien Heiden und beten zu Odin, was vollkommen lächerlich ist.«
Sie nickte, war aber in Gedanken bei der Mittsommernacht. »Und bist du auch einmal für ein Mädchen übers Feuer gesprungen, Cædmon? Und so weiter?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich war ein unschuldiger Knabe von vierzehn, als mein Vater mich in die Normandie schickte. Abgesehendavon durften meine Geschwister und ich nie bleiben, wenn meine Eltern das Fest kurz nach Entzünden des Feuers verließen. Dunstan ist natürlich immer zurückgeschlichen, brüstete sich tags darauf mit seinen Taten und kassierte Prügel. Aber nie besonders schlimm. Mein Vater tat es nur, weil meine Mutter darauf bestand. Insgeheim klopfte er Dunstan auf die Schulter. Vermutlich wäre er selbst gern bis Sonnenaufgang dabei geblieben. So wie Onkel Athelstan hierbleiben wird. Und Alfred und Irmingard.«
Ælfric kam angerannt und hielt unter der Kastanie. Harold und zwei Jungen aus dem Dorf folgten ihm dicht auf den Fersen, aber Ælfric berührte den Stamm als erster. »Ich war der Schnellste! Ich darf hinauf! Nicht wahr, Vater?«
Cædmon nickte. »Du warst der erste, ja. Laß sehen.« Er und Aliesa traten zurück und machten Platz.
Ælfric sprang mit aller Kraft ab und versuchte, den untersten Ast des gewaltigen Baums zu fassen zu kriegen, aber er war zu hoch. Er versuchte es zweimal, dreimal, unermüdlich, aber jedesmal verfehlte er den Ast um wenigstens einen Zoll.
Cædmon hob seufzend die Schultern. »Wie du siehst, ist es nicht immer damit getan, der Schnellste zu sein.«
»Hilfst du mir?« fragte der Junge.
»Nein, das ist gegen die Regeln.«
»Aber die Sonne geht unter!« flehte Ælfric verzweifelt.
»Dann solltest du dir schnell etwas einfallen lassen.«
Ælfric sah sich mit hochrotem Kopf um. »Harold …?«
Sein Vetter schnaubte. »Das kannst du vergessen.« Offenbar hatte Ælfric unlängst irgend etwas getan, um sich Harolds Freundschaft vorübergehend zu verscherzen.
Plötzlich stand Wulfnoth neben ihm. Cædmon war schon gelegentlich aufgefallen, daß der Kleine eine fast unheimliche Gabe hatte, sich lautlos zu bewegen.
»Ich werd’ dir helfen, Ælfric«, erbot er.
Ælfric stieß erleichtert die Luft aus und winkte ihn näher. »Mach eine Räuberleiter, los.«
Wulfnoth trat neben ihn. »Die Sache hat einen Preis. Du mußt mir einen Wunsch erfüllen.«
»Was?« fragte Ælfric ungeduldig.
»Das sage ich dir anschließend.«
»Überleg dir gut, was du tust, Ælfric, nachher gibt es kein Zurück«, warnte Cædmon beiläufig.
Aber das Nachher war weit weg, nur das Jetzt galt für Ælfric. »Einverstanden. Los, los, mach schon!«
Wulfnoth verschränkte die Hände ineinander, Ælfric stellte einen
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