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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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politische Lage so angespannt war, daß er kaum Zeit fand, sein kritisches Augenmerk auf England zu richten. Den ganzen Herbst über hörten sie selten Nachrichten in Helmsby. Guthric kam zu Michaelis und berichtete, daß William und Prinz Robert sich ausgesöhnt hatten, aber auf Wulfnoths drängende Frage, wann der König endlich zurückkommen und Prinz Henry heimbringen werde, wußte auch Guthric keine Antwort. Cædmon war es recht. Endlich hatte er einmal Zeit, sich um seine Ländereien und die vielen Güter zu kümmern, die ihm inzwischen gehörten. Er besuchte sie alle, um sich vor Ort über die Verhältnisse einBild zu machen, nahm ein paar zusätzliche junge Männer in seinen Dienst, hielt einmal im Monat den Gerichtstag in Helmsby ab, und kurz nach Allerheiligen ritt er zum übergeordneten Gerichtstag der Grafschaft nach Norwich. Das lang gescheute Wiedersehen mit Lucien, der als Sheriff den Vorsitz führte, verlief geradezu lächerlich unspektakulär. Sie tauschten ein kühles Nicken und erkundigten sich höflich nach dem Wohlergehen ihrer Frauen. Niemand, der sie sah, hätte ahnen können, daß der eine die Schwester des anderen, der andere die Verlobte des einen geheiratet hatte, oder daß bei ihrer letzten Begegnung eine Ochsenpeitsche mit im Spiel gewesen war. Und wenn sich jedes Härchen an Cædmons Körper bei der Erinnerung im Protest aufrichtete, so machte er doch ein gutgehütetes Geheimnis daraus. Erleichtert und ein bißchen stolz auf seine Nonchalance ritt er heim. Wie Hyld prophezeit hatte, verlief Aliesas Schwangerschaft mühsam, doch nachdem die schwierigen ersten drei Monate vorüber waren, hörten die Blutungen auf. Aliesa führte Cædmons Haus mit der scheinbar eleganten Mühelosigkeit eines Jongleurs, verfeinerte den Speiseplan, ohne die mürrische Köchin zu beleidigen, und führte unauffällig ein paar Reformen durch. An den langen Winterabenden las sie manchmal aus ihren Büchern vor, die sie aus Herefordshire hatte kommen lassen, oder sie sang eines der englischen Lieder, die Cædmon ihr beibrachte. Anfangs waren die Bewohner der Halle den normannischen Neuerungen gegenüber skeptisch, doch als sie feststellten, daß sich Cædmons Frau allem Englischen gegenüber aufgeschlossen zeigte, bewiesen sie ihrerseits Entgegenkommen. So verbrachten sie einen friedlichen Winter, und als Cædmon zu Weihnachten einen Spielmann in seine Halle führte, der sich ehrerbietig vor der Lady verbeugte und ankündigte, er wolle das Lied von Siegfried und dem Drachen und dem Gold im Rhein vortragen, war es, als hätten alle Wünsche sich erfüllt.

Helmsby, März 1080
    Sie hatten Cædmon aus dem Haus gejagt. Er wäre gern in seine neue Kirche gegangen, um zu beten, denn seine Knie waren butterweich vor Furcht und seine Hände kalt und klamm, aber er wagte sich nicht so weit fort. Schon ein, zwei Stunden nach Mitternacht hatte er Eanfled,die Hebamme, aus dem Dorf geholt, und jetzt war beinah Mittag. Aber nichts rührte sich auf der Zugbrücke. Und er wagte auch nicht, zurückzugehen und zu fragen, wie es stand.
    »Ähm, Entschuldigung, Thane, könntet Ihr ein Stück beiseite treten?« bat Ine.
    Cædmon machte ihm Platz. »Tut mir leid, daß ich dir im Wege rumstehe, Ine. Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll bei dem verdammten Regen.«
    Ine führte die beiden Pferde, die er von der Weide geholt hatte, zu ihren Boxen. Eines war Widsith, der inzwischen sein Gnadenbrot bekam, den Cædmon aber immer noch mehr liebte als seinen Nachfolger Frison, einen ausdauernden, klugen, aber launischen flämischen Rappen. Cædmon hatte ihn aufgrund genau dieser Eigenschaften nach dem Herzog von Flandern, Robert le Frison, benannt.
    Er trat zu seinem alten Weggefährten und nahm Ine das Stroh aus der Hand. »Ich reibe ihn ab. Ich bin froh, wenn ich irgend etwas zu tun habe. Und wie geht es deiner Frau?«
    Ine nickte und atmete tief durch. »Ist auch bald soweit. Ich wünschte, es wäre schon alles vorbei. Ich wünschte … ich könnte so gelassen sein wie Ihr.«
    »Ich bin nicht gelassen, Ine.«
    »Aber es scheint so.«
    Cædmon verzog den Mund. Das ist der Normanne in mir, dachte er und nestelte nervös an Widsiths immer noch üppiger Mähne herum. Er hatte allerdings Zweifel, wie lang er seine scheinbare Gelassenheit noch würde aufrechterhalten können.
    Als er im Hof eilige, leichte Schritte hörte, trat er ans Stalltor. Seine Schwester rannte mit wehenden Röcken auf ihn zu, nahm sich keine Zeit, die Pfützen zu

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