Das zweite Königreich
das immer lauter wurde, je mehr der Bruder die Stimme erhob, um es zu übertönen. Die Bauern gratulierten Cædmon zu Richards kräftiger Stimme, aber Vater, Pate und Priester waren gleichermaßen erleichtert, als sie den kleinen Schreihals wieder bei seiner Mutter abliefern konnten. Sie legte ihn an, und er beruhigte sich von einem Augenblick zum nächsten.
Cædmon beobachtete Mutter und Sohn mit unverhohlener Verzückung. »Ich frage mich, ob es wirklich nötig ist, daß die Aufnahme in den Schoß der Heiligen Mutter Kirche mit so einem Mordsschrecken verbunden ist«, murmelte er.
Aliesa streichelte dem kleinen Richard liebevoll den Kopf, erwiderteaber: »Jeder muß einen Preis für sein Seelenheil zahlen, das kann man gar nicht früh genug lernen.«
Er seufzte. »Das ist wohl wahr. Ich habe mir überlegt, daß wir anläßlich seiner Geburt ein Festmahl geben könnten. Es ist ein guter Anlaß zum Feiern, was denkst du?«
Sie hob den Kopf, sah ihn an und nickte. »Lade Lucien und Beatrice ein.«
»O nein, muß das sein?«
»Natürlich nicht. Ich bitte dich lediglich darum.«
Wie hätte er es ihr abschlagen können? Lucien war ihr Bruder und, Gott helfe ihnen, Richards Onkel. Eine weitere Verknüpfung, die ihrer aller Leben enger miteinander verstrickte. Vielleicht wurde es wirklich Zeit, daß sie wenigstens versuchten, die Vergangenheit ruhen zu lassen und ein halbwegs normales Verhältnis zu entwickeln. Doch Lucien würde niemals den ersten Schritt machen, das wußte Cædmon ganz genau. Also lag es an ihm.
»Na schön, meinetwegen.«
Sie belohnte ihn mit einem Lächeln, für das er immer noch willig die Sterne vom Himmel geholt hätte.
»Ine sagt, Gunnilds Kind kann auch jeden Tag kommen«, berichtete er. »Sie wäre eine gute Amme für Richard.«
Aliesa dachte einen Augenblick darüber nach. »Dann werden die ersten Worte, die er spricht, englisch sein«, murmelte sie versonnen. Cædmon antwortete nicht, und nach einem Moment fügte sie hinzu: »Aber ich denke, so soll es auch sein. Denn schließlich ist Richard Engländer.«
Sie hatten das Festessen auf einen Sonntag kurz nach Ostern gelegt, denn während der Fastenzeit war jede Art von Prasserei völlig undenkbar, und nach vierzig Tagen ohne Fleisch, Butter und Eier wußten sie eine üppig gedeckte Tafel besonders zu schätzen. Es gab frisches Wild und Lamm in köstlichen Soßen mit den kostbarsten Gewürzen – Cædmon hatte bei einem jüdischen Händler in Norwich gar Pfeffer und Safran erstanden. Außerdem wurden süße und deftige Pasteten mit herrlich goldbraunen Krusten gereicht, saftige Honigkuchen mit Rosinen und Mandeln, knusprige Brathühnchen und vieles mehr. Met, Wein und Cidre flossen in Strömen. Die Stimmung war ausgelassen, und die normannischen Musiker, die Cædmon ebenfalls in Norwichausfindig gemacht hatte, erfreuten auch die englischen Zuhörer. Er hatte keinen englischen Spielmann engagieren wollen, dessen Lieder seine normannischen Gäste gelangweilt hätten.
Lucien hatte Cædmons Einladung nicht ausgeschlagen. Er saß an der linken Seite seiner Schwester an der hohen Tafel, aß wenig, sprach kaum ein Wort und lauschte sichtlich gelangweilt Aliesa und Beatrice, die sich über seinen Kopf hinweg unterhielten. Erwartungsgemäß sprachen sie über Kleinkinder und deren Eigenarten. Beatrice hatte wenige Wochen vor Weihnachten ein Mädchen zur Welt gebracht – eine herbe Enttäuschung für Lucien –, und Aliesa hatte sich auf das einzige Thema gestürzt, das sie und ihre Schwägerin gleichermaßen interessierte.
»Natürlich habe ich eine normannische Amme genommen«, hörte Cædmon Beatrice sagen, »diesen englischen Bauernmädchen kann man ja kein hilfloses Kind anvertrauen. Mein Bruder hat sie mir von zu Hause geschickt. Aber ich fürchte, sie taugt auch nichts. Sie ist unaufmerksam, und genug Milch hat sie auch nicht. Und kurz vor Ostern ist sie …«
»Noch Wein, Lucien?« fragte Cædmon, damit er ihrer unangenehm schneidenden Stimme nicht länger lauschen mußte.
Sein Schwager nickte. »Kein übler Tropfen«, bemerkte er.
Cædmon war über das Kompliment aufs höchste erstaunt und erwiderte lächelnd: »Aus dem Languedoc. Dieses verrückte Volk dort unten mag uns nicht freundlich gesinnt sein und mit Philip von Frankreich paktieren, aber sie machen wirklich keinen schlechten Wein.«
Lucien winkte ab. »Das Languedoc ist weit weg. Ich mache mir im Moment mehr Sorgen um Northumbria.«
Cædmon spürte eine Gänsehaut
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