Das zweite Königreich
ein Glück du mit deiner Stiefmutter hast.« Ælfric nickte. »Doch. Ich wünschte, es wäre nicht so. Ich wünschte, sie wäre gemein und schroff wie Großmutter. Sie … sie bringt mich durcheinander.«
So, jetzt kommen wir der Sache auf den Grund, dachte Cædmon. »Warum ist dir so daran gelegen, alle Normannen zu hassen? So einfach ist die Welt nicht, weißt du. Man muß jeden Menschen einzeln betrachten.« »Aber sie haben uns überrannt. Sie unterjochen uns, und sie demütigen uns!«
Cædmon seufzte. »Ælfric, du kennst die ganze Geschichte von König Edwards Versprechen und Harold Godwinsons Wortbruch. Ich brauche dir nicht noch einmal zu erklären, wie es zu alldem gekommen ist. Aber nicht alle Normannen sind Unterdrücker. Nur die, die grundsätzlich alle Engländer hassen und verachten. So wie du glaubst, alle Normannen zu verabscheuen. Es ist dumm und kurzsichtig und beruht vor allem auf Unkenntnis. Und es nützt nichts, sich immer zu wünschen, die Dinge wären anders. Du mußt die Welt so nehmen, wie sie ist, und versuchen, sie zu verstehen. Ich glaube, du müßtest die Normannen nur besser kennenlernen.«
»Aber diese verfluchte Sprache …«
Cædmon lachte leise, hob Ælfrics Kinn mit Daumen und Zeigefinger und sah ihm ins Gesicht. »Ja, man bricht sich fast die Zunge an dieser Sprache, aber du wirst sie schon lernen. Bruder Oswald ist ein hervorragender Lehrer. Und wenn du dich anstrengst und diese Sprache gut genug beherrschst, bis der König zurückkehrt und nach mir schickt, dann nehme ich dich vielleicht mit an den Hof. Was hältst du davon?« Es war eine spontane Eingebung, aber als er einen Augenblick darüber nachdachte, stellte er fest, daß es wirklich keine üble Idee war. »Du könntest die tapfersten Krieger Englands sehen und in Prinz Rufus’ Dienst treten, wenn du willst. Dein Onkel Eadwig ist Rufus’ treuester Ritter. Er würde dir sicher unter die Arme greifen und dir helfen, dich in der normannischen Welt zurechtzufinden. Wer weiß, vielleicht kann Eadwig das viel besser als ich.«
Als der Name seines Onkels fiel, hellte sich Ælfrics Gesicht auf. Er sah seinen Vater mit großen Augen an, dann befreite er seinen Kopf und rieb sich verlegen das Kinn. »Das würdest du tun? Mich mitnehmen?« Cædmon hob kurz die Schultern. »Warum nicht?«
»Ich weiß nicht. Weil ich ein Taugenichts bin. Und meine Mutter nur eine Magd ist.« Er hob beide Hände. »Weil ich ein Bastard bin.«
Sein Vater lächelte unbeschwerter, als ihm zumute war. »Wie der König. Du siehst, deine Möglichkeiten sind beinah unbegrenzt. Deine Mutter ist eine großartige Frau, Ælfric, du solltest dir über ihren Stand keine Gedanken machen. Ja, ich werde dich mitnehmen. Wenn ich das Gefühl habe, daß du dich wirklich bemühst, nicht nur dein Normannisch, sondern vor allem deine Manieren zu verbessern. Glaub mir, kaum etwas ist wichtiger, wenn man unter Normannen zurechtkommen will. Du mußt lernen, dich zu beherrschen. Denk nach, bevor duhandelst. Tu nie wieder, was du heute abend getan hast. Es war schändlich, für dich ebenso wie für mich.«
Ælfric seufzte. »Es tut mir leid.«
»Ja, das will ich hoffen.« Cædmon fuhr ihm kurz über den blonden Schopf. »Jetzt verschwinde. Leg dich schlafen, es ist spät.«
Sein Sohn nickte und sah ihn mit dem verwegenen Lächeln an, das so typisch für ihn war und das sich nie lange unterdrücken ließ. »Gute Nacht, Vater. Ich hoffe, der König schickt bald nach dir.«
Helmsby, Juli 1080
Es war ein perfekter Sommersonntag. Der Himmel zeigte sich in geradezu bestürzendem Blau und vollkommen wolkenlos. Die warme Luft war erfüllt vom Summen der Bienen und Hummeln, die die Blumen der kleinen Wiese am Brunnen umschwirrten.
Cædmon saß an den Stamm der mächtigen Eiche gelehnt, die den Brunnen überschattete, hielt die Laute auf dem Schoß und spielte das Lied vom Wolf und der Taube. Aliesa hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt und summte die Melodie leise mit. Ein wehmütiges kleines Lächeln auf ihren Lippen verriet ihm, daß sie sich erinnerte, genau wie er. Und als er geendet hatte, murmelte sie: »Gott, wie unglücklich wir waren …«
Er nahm die Hand von den Saiten und legte den Arm um ihre Schultern. »Warst du das wirklich? Man konnte es dir nie anmerken.«
Sie seufzte leise. »Nun, wenigstens einer von uns mußte sich zusammenreißen, oder?«
Er war nicht so sicher. Er dachte, daß alles leichter gewesen wäre, wenn sie ihn von Anfang an hätte
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