Das zweite Königreich
nickte Cædmon ihm zu. »Komm.«
Ohne verdächtige Eile, aber auch nicht unnötig langsam überquerten sie den Hof.
»Wo soll’s denn hingehen?« fragte die Torwache auf normannisch.
Cædmon wandte sich um und ging rückwärts weiter. »Wohin gehst du denn zu Ostern, wenn du dienstfrei hast? In die Kirche, natürlich.« Der Soldat lachte. »Ja, darauf wette ich.«
Als sie das Tor hinter sich hatten, atmeten sie beide tief durch, tauschten ein Grinsen und rannten ein Stück. Bald erreichten sie die ersten Häuser der Stadt. Guthric wartete vor einem großen Kaufmannshaus. Als er sie kommen sah, trat er aus dem Schatten der Toreinfahrt und umarmte seinen Bruder.
»Cædmon … Gott sei gepriesen. Und Odric. Ich gebe zu, ich bin erleichtert, daß du nicht zurückbleiben mußtest. Kommt, laßt uns hier nicht auf der Straße rumtrödeln. Wenn eure Flucht bemerkt wird, werden sie die Stadt durchkämmen.«
Sie folgten ihm die Straße hinunter. »Wohin gehen wir?« erkundigte Cædmon sich, und er mußte wieder und wieder zum Himmel aufsehen, der mit jeder Minute seine Farbe änderte.
»Zum Hafen«, antwortete sein Bruder.
Cædmon blieb stehen. »Ich fahre nirgendwohin, ehe ich meine Frau nicht gesehen habe.«
Guthric warf ihm einen Seitenblick zu und lächelte. »Nein, das habe ich mir gedacht. Komm. Je schneller du dich bewegst, um so eher siehst du sie.«
»Sie ist hier?« Er packte Guthric am Arm und zerrte ihn vorwärts. »Wo? Wie geht es ihr? Was ist mit dem Kind?«
Guthric machte sich lachend los. »Du rennst in die falsche Richtung, Cædmon. Hier müssen wir links. Es geht ihr gut. Zumindest wird es das, sobald sie sieht, daß du in Sicherheit bist. Das Kind ist ein Mädchen. Die Königin hat sich erboten, Pate zu stehen, und so haben sie deine Tochter Matilda genannt. Da sind wir. St. Edmund.«
Es war eine alte, unscheinbare Kirche in einem ärmlichen Viertel. Cædmon stieß das Portal auf, so daß es beinah aus den morschen Angeln riß, und stürmte hinein. Guthric und Odric warteten draußen. Aliesa kniete vor dem Altar. Er sah ihre Silhouette vor den zwei oder drei Kerzen, die darauf brannten. Als sie die Tür hörte, wandte sie den Kopf, kam in einer fließenden, graziösen Bewegung auf die Füße und lief ihm entgegen. Die Kirche war klein; mit vier oder fünf Schritten hatten sie sich erreicht, und Aliesa schlang die Arme um seinen Hals und preßte das Gesicht an seine Schulter. Cædmon drückte sie an sich, schärfte sich ein, ihr nicht wieder die Luft abzuschnüren, und dachte, daß dies wohl das wunderbarste Gefühl auf der Welt war, seine Frau an Hals und Armen, an der Brust, fast an seinem ganzen Körper zu spüren. »Cædmon …« Es klang erstickt.
Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf, küßte ihre Tränen weg, ehe er sich mit Hingabe ihrem Mund widmete.
»Es tut mir so leid, Aliesa«, sagte er schließlich. »Wäre ich nicht so unglaublich dumm gewesen, hätte ich dir all diesen Kummer ersparen können. Aber ich …«
Sie legte einen Finger auf seine Lippen und schüttelte den Kopf. Sie weinte nicht mehr, aber sie drängte sich immer noch an ihn, als müsse sie sich mit ihrem ganzen Körper vergewissern, daß er wirklich wieder da war. »Das ist jetzt alles ganz gleich. Du bist wieder da. Nur das zählt. Alles ist gut.«
Alles ist gut . Wie wunderbar das klang. Und wenigstens ein paar Minuten wollte er sich vorgaukeln, es sei wahr. Er sah in ihr Gesicht hinab, strich mit den Daumen über ihre Schläfen und bat: »Erzähl mir von Matilda.«
Aliesa lächelte unwillkürlich. »Sie ist das schönste kleine Mädchen,das du dir vorstellen kannst. Und so brav. Sie weint niemals. Die Amme steht jede Nacht dreimal auf, um zu sehen, ob sie noch lebt, weil man nie etwas von ihr hört.«
»Wie sieht sie aus?«
»Wie du. Sie ist dein Ebenbild. Und Richard spricht, Cædmon. Er vergöttert seine kleine Schwester und folgt der Amme wie ein Schatten, wohin sie sie auch trägt, und von früh bis spät redet er.«
Gott, ich will nach Hause, dachte er. Die Sehnsucht nach seinen Kindern und seinem Heim war so übermächtig, daß er nicht wußte, was er ihr entgegensetzen sollte. Aliesa berichtete ihm auch von Wulfnoth, von Alfred und Irmingard und deren Kindern, und er fragte und hörte ihr zu, bis endlich alles gesagt schien, und sie schwiegen eine Weile.
Dann sah sie ihm in die Augen. »Erzähl mir, was passiert ist.«
Er beschränkte sich auf zwei, drei Sätze. Odrics nächtlicher
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