Das zweite Königreich
»Und was du gestern getan hast, hätte ich im umgekehrten Fall vermutlich auch getan. Ganz gleich, wie Jehan dich genannt hat, es war nicht …«
»Was, glaubst du, kümmert mich deine Meinung?« unterbrach Lucien schneidend.
Cædmon seufzte und nickte. »Einen Dreck.«
»So ist es.« Lucien stellte die Schilde auf ihre hölzernen Gestelle. Alles, was er heute tat, machte er mit langsamen Bewegungen, und er ließ Cædmon sein Gesicht nicht sehen.
»Ich weiß nicht, warum ich dir immer nur Unglück bringe«, sagte Cædmon leise zu seinem Rücken. »Das will ich gar nicht. Ich meine … Gott, es ist schwierig, die richtigen Worte zu finden. Ich schätze, was ich eigentlich sagen will, ist, daß ich dich um Verzeihung bitte. Es tut mir leid.« Er stieß erleichtert die Luft aus. Sich zu entschuldigen gehörte wirklich nicht zu seinen Stärken. Er war ein bißchen stolz, daß er es zustande gebracht hatte, auch wenn er wußte, daß er es vor allem für Luciens Schwester getan hatte.
Der Junge wandte sich zu ihm um und richtete sich kerzengerade auf. »Das sieht dir wirklich ähnlich«, stieß er wütend hervor. »Jetzt beschämst du mich obendrein auch noch. Natürlich akzeptiere ich deine Entschuldigung, Cædmon. In gewisser Weise weiß ich sie vielleichtsogar zu schätzen. Aber ich bete trotzdem, daß Gott den Herzog bald siegreich heimkehren läßt und du mit eurem Earl nach England zurückkehrst und ich dich nie im Leben wiedersehen muß.«
Cædmon nickte langsam. »Weißt du … dagegen hätte ich auch nichts.«
Rouen, Juni 1064
Vorerst erreichte sie jedoch lediglich die Nachricht, daß Conan de Bretagne sich nach Dinan geflüchtet hatte, wo William ihn belagerte. Es war also noch völlig ungewiß, ob und wie bald Luciens Gebet erhört werden sollte.
Unterdessen ergaben sowohl er als auch Cædmon sich in das Unvermeidliche, und was ihnen anfangs unerträglich erschienen war, wurde Normalität. Dank Jehan de Bellêmes Fürsprache lockerte der Seneschall Wulfnoths Arrestbedingungen, und Cædmon durfte seinen unglücklichen Landsmann hin und wieder besuchen, freilich ohne zu ahnen, wem er das zu verdanken hatte. Jehan wäre der letzte gewesen, auf den er gekommen wäre, denn er war überzeugt, daß der alte normannische Haudegen ihn wirklich aus tiefster Seele verabscheute, weil er Ausländer oder ein Krüppel war oder aus welchem Grunde auch immer. Jedenfalls machte er Cædmon das Leben nach wie vor schwerer als allen anderen. Immerhin brachte ihm das die Sympathie seiner neuen Gefährten in besonderem Maße ein, und das wußte Cædmon zu schätzen. Er genoß das Zusammenleben mit so vielen Gleichaltrigen, die meist fröhliche Stimmung in ihrem Quartier, die neuen, phantasievollen Flüche, die er lernte, ganz zu schweigen von den vielen Geheimnissen über Frauen, die ihn verblüfften und faszinierten, und bald hatte er den Verdacht, daß er über diese Dinge mehr wußte als Dunstan – jedenfalls in der Theorie –, und er errötete auch nicht mehr so leicht. Eine andere, viel tiefgreifendere Veränderung vollzog sich, ohne daß Cædmon das geringste davon bemerkte: Dank Jehans drastischer Maßnahmen, wie etwa nächtliche Gepäckmärsche auf der Brustwehr oder fußläufige Jagdausflüge, während alle anderen ritten, waren Cædmons Beinmuskeln enorm gestärkt worden. Auch im linken Bein. War die Taubheit auch nach wie vor vorhanden, konnte er den Fuß doch besserbewegen, und wenn er sich nicht auf seine Beine konzentrierte, wie etwa bei Übungskämpfen, ließ das Hinken deutlich nach. Doch sobald er das Schwert in den Sand rammte und an seinen Platz in der Reihe zurückkehrte, humpelte er wie eh und je. Und fragte sich ratlos, wieso Jehan ihn immer mit so erbitterten Zornesausbrüchen empfing.
»… selbst wenn ich alles richtig gemacht und meinen Gegner gar entwaffnet habe. Aber ich kann ihm nie etwas recht machen. Gott, warum will ihr Herzog König von England werden, wenn die Normannen uns so hassen? Das ist einfach lächerlich.«
Wulfnoth legte die Laute beiseite. »Wir werden nicht viel zu lachen haben, wenn es wirklich dazu kommt«, bemerkte er ironisch. »Im übrigen glaube ich nicht, daß Jehan dich haßt. Im Gegenteil. Ich würde sagen, er schenkt dir besondere Aufmerksamkeit.«
»Ja, immer wenn er jemanden sucht, an dem er sein Mütchen kühlen kann«, brummte Cædmon. Dann legte er den Kopf schräg. »Woher willst du das überhaupt wissen?«
Wulfnoth wies auf das kleine Fenster seiner Kammer.
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