Das zweite Königreich
beeinträchtigten ihn kaum noch, er dachte so gut wie nie an diese alte Geschichte, und seit jenem Abend im vorletzten Sommer, als er Wulfnoth gehindert hatte, sich von der Brustwehr zu stürzen, hatte ihn niemand mehr hinken sehen.
»Ein bißchen kalt und feucht hier unten. Und ich habe vermutlich nicht genug Bewegung.«
»Ich glaube nicht, daß ihr es noch lange hier aushalten müßt«, sagte Etienne zuversichtlich. »Natürlich ist der Herzog immer noch zornig auf Euren Bruder, Wulfnoth. Aber er tobt nicht mehr.«
Wulfnoth nickte. »William hatte seit jeher einen kühlen Kopf in seinem Zorn, das macht ihn so gefährlich.«
»Die Unterstützung des Adels und seiner Vasallen hat ihn besänftigt«, fuhr Etienne fort. »Der Herzog hat es als bedauerliche Tatsache akzeptiert, daß der englische Adel nicht zum Versprechen seines toten Königs steht und …«
»Es klingt ziemlich häßlich, wie du das sagst«, unterbrach Cædmon aufgebracht.
»Es ist häßlich«, entgegnete Wulfnoth. »Bedauerlicherweise war König Edward der einzige Mann in England, der einen Normannen auf dem englischen Thron wollte. Vielleicht war es unklug und selbstsüchtig, daß er dieses Versprechen gab, aber wie dem auch sei, sein Versprechen hätte die Witan binden müssen. Jeder Angehörige des Rates, der für Harold gestimmt hat, hat sich ehrlos verhalten, wie gut seine Gründe auch immer gewesen sein mögen. Und mein Bruder ist von allen am tiefsten gesunken. Fahrt fort, Etienne.«
»Der Herzog und der Rat haben beschlossen, daß eben erkämpft werden muß, was man ihm widerrechtlich vorenthält. Eine Flotte soll gebaut werden. Und sobald sie fertig ist, wird sie nach England segeln.« Cædmon traute seinen Ohren kaum. »Er will England … erobern?« Wulfnoth pfiff leise durch die Zähne. »Ich habe irgendwie immer geahnt, daß er nicht die Absicht hat, als William ›der Bastard‹ in die Geschichte einzugehen.«
Cædmon hörte nicht hin. »Er muß wahnsinnig sein. Ich meine, das kann nicht einmal er wagen. Es ist aussichtslos, und die ganze Christenheit würde empört aufschreien.«
»Wieso glaubst du das?« fragte Etienne kühl. »Er will nichts weiter als sein Recht durchsetzen.«
»Herrgott noch mal, Etienne, ich bin gerne bereit zuzugeben, daß Harold Godwinson sein Wort gebrochen und sich ehrlos verhalten hat, aber jetzt ist er der vom Witenagemot gewählte König! Da ist nichts mehr zu machen.«
»Ich schätze, das werden wir sehen.«
»Aber ihr habt kein Recht …«
Etienne hob abwehrend die Hand. »Cædmon.«
»Was?«
»Ich glaube, wenn wir Freunde bleiben wollen, müssen wir uns darauf einigen, bestimmte Themen zu meiden. Und ich schätze, dazu gehört, was ich über deinen König denke und was du über meinen Herzog denkst. Was meinst du?«
Cædmon dachte einen Augenblick nach. Dann nickte er knapp. »Du hast recht.«
Etienne lächelte schwach. »Dann wollen wir es in Zukunft so halten. Politik ist schließlich keine Sache zwischen dir und mir.«
»Nein«, stimmte Cædmon mit mehr Überzeugung zu. »Du hast recht, Etienne. Entschuldige.«
Etienne winkte ab, sah sich kurz um und schauderte unwillkürlich. »Ich kann verstehen, daß du auf uns Normannen im Augenblick nicht gut zu sprechen bist, weißt du. Ich glaube, ich könnte es hier nicht mit so großer Gelassenheit aushalten wie ihr. Und darum werde ich euch jetzt verlassen, Monseigneurs«, schloß er grinsend.
Anfang Februar wurden Wulfnoth und Cædmon tatsächlich ohne ein Wort der Erklärung aus ihrem Verlies entlassen. Es war früher Morgen,noch fast dunkel, und die Wachen, die sie die Treppe hinauf in den eisig kalten Hof führten, hießen Wulfnoth, sie zu begleiten. Cædmon möge in die Halle gehen und frühstücken und sich dort bereithalten.
Die beiden Engländer tauschten unbehagliche Blicke.
In der Halle war Hochbetrieb. So unauffällig wie möglich ging Cædmon zu dem Platz an der linken Tafel, wo er zusammen mit Wulfnoth saß, wenn er sich gelegentlich hier aufhielt. Zwei normannische Ritter gleich neben ihm unterbrachen ihre Unterhaltung, als er Platz nahm, und standen mit solchem Nachdruck auf, daß die Leute in der Nähe neugierig aufschauten. Mit einem unendlich verächtlichen Blick in Cædmons Richtung gingen die beiden Männer davon. Cædmon biß die Zähne zusammen und tat, als mache ihm das überhaupt nichts aus. Er hatte kaum aufgegessen, als eine Wache zu ihm trat und ihm mitteilte, Herzog William wünsche ihn umgehend zu sehen.
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