Das zweite Königreich
unanständige Hast. Der arme Edward kann noch nicht einmal kalt gewesen sein, als du seine Krone genommen hast.«
»Glaubst du wirklich, der König hat ihn vor seinem Tod zum Nachfolger bestimmt?«
Wulfnoth schnaubte. »Nie im Leben. Der König konnte meinen Bruder ebensowenig ausstehen wie meinen Vater. Er hat sie beide immer gefürchtet.«
»Vielleicht war sein Geist verwirrt«, gab Cædmon zu bedenken.
»Vielleicht. Vielleicht hat Harold diese rührselige Geschichte vom Sinneswandel in letzter Minute aber auch nur erfunden, um die Witan für sich zu gewinnen.«
Cædmon nickte nachdenklich, legte die Arme auf die angezogenen Knie und stützte das Kinn auf die Faust. »Und was wird Herzog William tun?«
»Gute Frage. Ich kann mir irgendwie nicht so recht vorstellen, daß er müßig die Hände in den Schoß legt und seine Träume von der englischen Krone stillschweigend begräbt.«
Tatsächlich rief der Herzog umgehend eine Versammlung seiner mächtigsten Adligen und Verbündeten ein. Während Cædmon und Wulfnoth in Furcht und Ungewißheit schmorten, traf sich der Rat in Lillebonne, etwa zwanzig Meilen westlich von Rouen, und dort erörterten sie, wie man auf diesen Affront reagieren solle.
Am Tag der Rückkehr des Herzogs schlich Etienne sich abends in den Keller hinab zum Verlies und brachte den beiden Engländern Neuigkeiten und Brathühnchen.
»Hier, mit den besten Grüßen aus der Küche. Jetzt macht es sich bezahlt, daß du dort so gute Kontakte unterhältst, Cædmon«, bemerkte er mit einem süffisanten Lächeln.
Cædmon brummte irgend etwas Unverständliches und begann zu essen. Etienne und die anderen jungen Männer am Hof waren regelmäßige Gäste in den Freudenhäusern der Stadt. Weil Cædmon sie nie begleitete, gingen sie davon aus, daß er anderweitig auf seine Kosten kam, und irgendwie war das Gerücht um Cædmon und eine der Küchenmägde in die Welt gekommen. Er tat nichts, um es zu zerstreuen, obwohl es jeglicher Grundlage entbehrte. Selbst wenn er ein Mädchen gefunden hätte, das bereit gewesen wäre, sich mit einer englischen Geisel einzulassen, er hätte es nie riskieren können. Wäre sie schwanger geworden, hätte das für ihn böse Schwierigkeiten zur Folge gehabt. Doch ebensowenig konnte er seine Freunde bei ihren Ausflügen begleiten, weil er so gut wie kein Geld besaß. Die beschämende Wahrheit war, daß er in dieser Disziplin nach wie vor unerprobt war. Aber er wollte wirklich nicht, daß irgendwer das auch nur ahnte.
Etienne hielt sein beharrliches Schweigen fälschlicherweise für galante Zurückhaltung und wechselte das Thema.
»Ich wäre schon eher gekommen, aber mein Vater hat es ausdrücklich verboten.«
»Und jetzt hat er es erlaubt?« fragte Wulfnoth ungläubig.
Etienne schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber er ist noch in Lillebonne und kommt erst morgen zurück.«
Cædmon lächelte seinem Freund dankbar zu. »Du riskierst mal wieder Kopf und Kragen. Wenn Jehan davon erfährt …«
»Tja, du wirst es nicht glauben, Cædmon, aber es war Jehan, der die Wachen überredet hat, mich zu euch zu lassen. Ich sag’s ja immer, er hat eine Schwäche für euch beide.«
»Ich glaube, mir wird schlecht«, brummte Cædmon, aß aber mit unvermindertem Appetit weiter. Michel sorgte dafür, daß sie ausreichend beköstigt wurden, aber die erlesenen Speisen, die in der Halle serviert wurden, verschwendete man nicht an die in Ungnade gefallenen Engländer.
»Jedenfalls habt ihr nach wie vor Freunde hier«, versicherte Etienne nachdrücklich.
Cædmon öffnete den Mund zu einer bissigen Bemerkung, aber Wulfnoth kam ihm zuvor. »Das wissen wir zu schätzen, Etienne«, sagte ereilig und warf Cædmon einen warnenden Blick zu. »Und jetzt erzählt, was immer Ihr uns sagen könnt.«
Der junge Normanne dachte einen Moment nach und beobachtete Cædmon, der aufgestanden war, um die Fackel zu erneuern, deren Zischen und Flackern verriet, daß sie bald verlöschen wollte.
»Cædmon, du hinkst!« rief Etienne erschrocken.
»Ich weiß.« Cædmon winkte beruhigend ab.
Das Bein hatte nie ganz aufgehört, ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Im Winter machte es ihm mehr zu schaffen als im Sommer, aber ganz gleich zu welcher Jahreszeit kündigte es ihm einen jeden Wetterumschwung durch einen dumpfen, ziehenden Schmerz an, und die Leute auf der Burg in Rouen hatten sich angewöhnt, ihn zu fragen, ob es Regen geben werde. Er irrte sich so gut wie nie. Doch die Beschwerden
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