Dass du ewig denkst an mich
Lauries Stimme klang liebevoll und amüsiert.
Konnte sie jetzt allmählich über ihre Eltern reden, ohne daß
sich gleich Selbstvorwürfe und nagender Schmerz einstellten?
Lieber Gott, ich bitte dich darum, dachte Sarah und schickte
ein Stoßgebet zum Himmel. Als sie den Parkplatz erreichten,
wirkte Laurie jedoch plötzlich beunruhigt: »Sarah, laß mich
eines sagen: Wenn wir nach Hause kommen, möchte ich nicht
über gestern reden. Ich habe zu Hause immer das Gefühl, daß
du mich besorgt beobachtest und mir Fragen stellst, die
irgendwie zielgerichtet sind, ganz und gar nicht beiläufig. Du
solltest jetzt wirklich aufhören, mich darüber auszufragen, wie
ich geschlafen habe, was ich esse, mit wem ich ausgehe und
dergleichen. Ich möchte diejenige sein, die bestimmt, worüber
sie reden möchte. Und du hältst es mit mir genauso.
Einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte Sarah und dachte: Du hast sie
wirklich wie ein kleines Kind behandelt, das Mama alles
erzählen muß. Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, daß sie
anfängt, sich dagegen aufzulehnen? Aber was ist gestern nur
passiert?
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sagte Laurie: »Sarah,
ich weiß nicht, weshalb ich gestern plötzlich in Ohnmacht
gefallen bin. Ich weiß nur, daß es schrecklich anstrengend ist,
wenn Dr. Carpenter mir dauernd Fangfragen stellt. Ich habe
dann immer das Gefühl, als müßte ich alle Fenster und Türen
verriegeln, weil jemand ins Haus einbrechen will.«
»Er ist aber doch kein Einbrecher. Er will dir helfen. Aber du
bist wohl noch nicht bereit dazu.«
Sarah fuhr an den Wachleuten am Tor vorbei und
registrierte, daß alle ankommenden Fahrzeuge angehalten und
überprüft wurden. Laurie hatte das offenbar ebenfalls bemerkt,
denn sie meinte: »Sarah, laß uns eine Anzahlung für diese
Eckwohnung leisten. Ich würde hier wirklich gern wohnen. Mit
dieser Torwache wären wir sicher. Ich habe ein solches
Bedürfnis nach Sicherheit. Ich habe noch nie so empfunden,
und das macht mir angst.«
Unterdessen befanden sie sich wieder auf der Straße und
beschleunigten ihre Fahrt. Sarah mußte einfach die Frage
stellen, die sie quälte: »Hast du deshalb das Messer
weggenommen? Um dich sicher zu fühlen? Laurie, das kann
ich verstehen. Solange du nur nicht zuläßt, daß du in solche
Depressionen gerätst, daß du… dir selbst weh tust.«
Laurie seufzte. »Sarah, ich habe nicht vor, Selbstmord zu
begehen. Ich weiß, daß du darauf hinauswillst. Ich wünschte,
du würdest mir glauben. Ich schwöre dir: Ich habe dieses
Messer nicht genommen!«
Am Abend kippte Laurie den Inhalt ihrer Schultasche auf das
Bett, um sie neu zu packen. Schulbücher, Blocks und
Ringbücher purzelten heraus. Als letztes kam der Gegenstand,
der ganz unten in der Tasche versteckt gewesen war: das
verschwundene Tranchiermesser aus der Küche.
Laurie fuhr zurück. »Nein! Nein! Nein!« Sie sank auf die
Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. »Ich habe es
nicht genommen, Saraaah!« schluchzte sie. »Papa hat gesagt,
daß ich nicht mit Messern spielen darf.«
Plötzlich schoß eine spöttische Stimme durch ihr
Bewußtsein. Oh, halt doch den Mund, Mädchen. Du weißt
doch, warum du es hast. Kapier doch und steck es dir in den
Hals. Herrgott, wie ich eine Zigarette brauche.
36
Gregg Bennett sagte sich, daß es ihm egal war. Oder genauer:
daß es ihm egal sein sollte. Schließlich gab es eine ganze
Menge attraktiver junger Frauen auf dem Campus, und in
Kalifornien würde er noch viele andere kennenlernen. Im Juni
würde er seinen Abschluß machen und nach Stanford gehen,
um dort Betriebswirtschaft zu studieren.
Gregg war fünfundzwanzig und damit wesentlich älter als
seine Kommilitonen und fühlte sich auch so. Der
neunzehnjährige Dummkopf, der nach einem Jahr vom College
abgegangen war, um Unternehmer zu werden, war ihm immer
noch ein Rätsel. Nicht, daß ihm die Erfahrung geschadet hätte.
Jedenfalls hatte er auf diese Weise herausgefunden, wieviel er
noch nicht wußte und daß es die Welt der internationalen
Finanzen war, die ihn interessierte.
Gregg wohnte in einem Einzimmer-Apartment über der
Garage eines privaten Einfamilienhauses, nicht weit vom
Campus entfernt. Er fühlte sich dort wohl, denn er hatte nicht
die geringste Lust, sich mit drei oder vier anderen Typen ein
Zimmer zu teilen und dauernd Partys zu feiern. Seine
Wohnung war sauber und luftig, mit einer bequemen
Bettcouch, auf der
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