Daughter of Smoke and Bone
durchdrang Madrigals Herz, und sie sehnte sich danach, Akiva in die Arme zu schließen. Thiago wollte, dass sie zusammenbrach, dass sie weinte und bettelte, aber diesen Gefallen würde sie ihm nicht tun. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen. Für sie gab es nicht die geringste Hoffnung. Sie würde nicht weiterleben. Sie nicht.
Nach einem letzten Blick zu ihrer großen Liebe legte sie den Kopf auf den Block. Er war aus schwarzem Stein wie alles in Loramendi, und er fühlte sich an ihrer Wange so heiß an wie ein Amboss. Akiva schrie, und Madrigals Herz antwortete ihm. Ihr Puls raste – gleich würde sie
sterben
! –, aber äußerlich blieb sie ganz ruhig. Denn sie hatte einen Plan, und daran hielt sie sich fest, als der Henker seine Klinge hob – ein großes, glänzendes Ding wie ein fallender Mond. Sie hatte etwas zu erledigen, und sie konnte es sich nicht erlauben, diese Aufgabe aus den Augen zu verlieren. Sie war noch nicht fertig.
Nach ihrem Tod würde sie Akivas Leben retten.
Rein
Madrigal Kirin war genaugenommen Madrigal
von den
Kirin, einem der letzten geflügelten Stämme im Adelphas-Gebirge. Die Berge waren eine natürliche Bastion zwischen dem Reich der Seraphim und den freien Gebieten – dem Chimären-Territorium –, und schon seit Jahrhunderten hatte niemand mehr in Sicherheit auf ihren Gipfeln gelebt. Die Kirin, blitzschnelle und hervorragende Bogenschützen, hatten am längsten durchgehalten. Erst vor einem Jahrzehnt, als Madrigal noch ein Kind war, waren sie ausgerottet worden, und sie wuchs in Loramendi auf, zwischen Türmen und Dächern, kein Kind der Berge mehr.
Loramendi – der Käfig, die Schwarze Festung, der Sitz des Kriegsherrn – war Wohnstätte einiger Millionen Chimären, Kreaturen aller Art, die ohne die Seraphim niemals Seite an Seite gelebt oder gekämpft oder auch nur die gleiche Sprache gesprochen hätten. Früher hatten die Rassen voneinander isoliert gelebt, hatten gelegentlich Handel miteinander getrieben, sich manchmal kleinere Gefechte geliefert – so hatte beispielsweise ein Kirin wie Madrigal mit einem Anolis von Iximi nicht mehr gemeinsam als ein Wolf mit einem Tiger –, aber das Imperium hatte all das verändert. Indem sie sich selbst zu den Bewahrern der Welt ernannten, hatten die Engel den Kreaturen des Landes einen gemeinsamen Feind verschafft, und nun, nach jahrhundertlangem Kampf, hatten die Chimären ein gemeinsames Erbe, eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Helden und eine gemeinsame Sache. Sie waren eine Nation – mit dem Kriegsherrn als Führer und mit der Hauptstadt Loramendi.
Loramendi war eine Hafenstadt, in der Kriegsschiffe, Fischerboote und eine mannhafte Handelsflotte vor Anker lagen. Kleine Wellen auf der Wasseroberfläche waren ein Hinweis auf die amphibischen Kreaturen, die als Angehörige der Allianz die Schiffe begleiteten und auf ihrer Seite kämpften. In der Stadt mit ihren massiven schwarzen Mauern und Bollwerken lebte eine buntgemischte Bevölkerung, und obwohl die Rassen sich im Laufe der Jahrhunderte vereint hatten, gesellte sich nach wie vor meist Gleich zu Gleich – oder zumindest Ähnlich zu Ähnlich –, so dass die Wohnviertel recht einheitlich waren und das auf dem äußeren Erscheinungsbild basierende Kastensystem vorherrschte.
Madrigal war von hochmenschlicher Gestalt, wie man alle Kreaturen mit dem Kopf und Oberkörper eines Mannes oder einer Frau bezeichnete. Sie hatte schwarze, geriffelte Gazellenhörner, die sich von der Stirn wie ein arabischer Krummsäbel erst nach hinten und wieder nach vorn bogen. Von den Knien abwärts hatten ihre Beine Fell, und dank des Gazellenanteils waren sie so ungewöhnlich lang und elegant, dass Madrigal aufrecht – ohne Hörner – fast einen Meter achtzig maß, wovon ein übermäßig großer Teil den Beinen anzurechnen war. Dazu war sie gertenschlank und hatte weit auseinanderliegende braune Augen, groß und glänzend wie die eines Rehs, aber ohne deren typische Leere. Sie waren wach und scharf, intelligent und quicklebendig, und der Mund in ihrem ovalen, glatten und hellhäutigen Gesicht war breit, beweglich und zum Lächeln wie geschaffen.
Sie war eine Schönheit, ganz gleich, welchen Maßstab man anlegte, aber vollkommen uneitel. Ihre dunklen Haare trug sie so kurz wie ein Fell, sie schminkte sich nicht und behängte sich nicht mit Schmuck. Aber das spielte keine Rolle. Sie war schön, und Schönheit bleibt nie unentdeckt.
Thiago hatte bereits ein Auge auf sie
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