Daughter of Smoke and Bone
nur ihre vier gesehen hatte, die nie darüber sprachen, ob es andere gab.
Jetzt wurde ihr mit einem Schlag klar, dass diese ganze Stadt von Chimären bevölkert sein musste und dass jenseits ihrer Mauern eine ganze Welt, eine Welt mit
zwei Monden
, lag, in der höchstwahrscheinlich auch Chimären lebten. Das Universum schien zu erzittern und größer zu werden. Es war ein schwindelerregendes Gefühl, und sie musste nach den Gitterstäben greifen, um sich aufrecht zu halten.
Es gab eine andere Welt.
Eine andere Welt.
So viele Theorien hatte sie über die andere Tür aufgestellt, aber das hier hätte sie sich in ihren wildesten Träumen nicht vorstellen können; eine andere Welt mit eigenen Bergen, Kontinenten und Monden. Durch den Blutverlust war ihr sowieso schon schwindlig, aber diese überwältigende Erkenntnis brachte sie völlig aus dem Gleichgewicht.
In diesem Augenblick hörte sie Stimmen. Ganz nah. Und vertraut. Ihr ganzes Leben hatte sie diesem Flüstern gelauscht, wenn sie die Köpfe zusammensteckten und über Zähne diskutierten. Es waren Brimstone und Twiga, die da um die Ecke kamen.
»Ondine hat Thiago hergebracht«, sagte Twiga gerade.
»Dieser Idiot«, knurrte Brimstone. »Denkt er, die Armeen könnten ihn in so einer Zeit entbehren? Wie oft muss ich ihm noch sagen, dass ein General nicht an der Front kämpft?«
»Du bist dafür verantwortlich, dass er keine Furcht kennt«, meinte Twiga. Brimstone schnaubte, und das Schnauben klang gefährlich nahe.
Um ein Haar wäre Karou in Panik geraten. Ihre Augen huschten zu der Tür zurück, durch die sie gekommen war, aber es erschien ihr unwahrscheinlich, dass sie sie rechtzeitig erreichen könnte. Also kauerte sie sich regungslos in die Fensternische.
Brimstone und Twiga gingen so nahe an ihr vorbei, dass sie sie hätte berühren können. Was, wenn sie in den Laden gingen, die Tür hinter sich zuzogen und Karou an diesem seltsamen Ort einsperrten? Sie war kurz davor, ihnen nachzurufen, doch dann gingen die beiden an der Tür vorbei. Sofort ließ Karous Panik nach und machte einem anderen Gefühl Platz: Wut.
Wut über die Jahre voller Geheimnisse. Als wäre sie nicht vertrauenswürdig, als könnte man ihr nicht wenigstens die Grundsätze ihrer eigenen Existenz erklären. Ihre Wut machte sie kühn, und so beschloss sie, so viel wie möglich herauszufinden während sie hier war. Vermutlich würde sie eine solche Gelegenheit nie wieder bekommen. Als Brimstone und Twiga in einen dunklen Treppenschacht abbogen, folgte sie ihnen.
Es waren Turmstufen, eine enge Wendeltreppe, die spiralförmig nach unten führte, hinunter, rundherum, hinunter, rundherum, hypnotisch, bis Karou nicht nur der Kopf schwirrte, sondern sie das Gefühl hatte, sie wäre in einer Art Vorhölle gelandet und müsste nun ewig weiter hinabsteigen. Am Anfang gab es noch kleine Fensterschlitze, doch nach einer Weile verschwanden auch diese. Die Luft wurde kühl und still und Karou hatte das Gefühl, unter der Erde zu sein. Immer wieder schnappte sie Fetzen von Brimstones und Twigas Gespräch auf, die für sie jedoch wenig Sinn ergaben.
»Wir brauchen bald mehr Weihrauch.« Twigas Stimme.
»Wir brauchen mehr von allem. So einen Angriff hat es seit Jahrzehnten nicht gegeben.« Brimstone.
»Meinst du, sie haben es auf die Stadt abgesehen?«
»Worauf sonst?«
»Wie lange?«, fragte Twiga mit einem Zittern in der Stimme. »Wie lange können wir sie aufhalten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Brimstone.
Gerade als Karou dachte, sie würde keine einzige Drehung mehr aushalten, hatten sie den Boden erreicht. Und hier wurde es interessant.
Wirklich
interessant.
Die Stufen führten in einen gewaltigen, von Echos widerhallenden Raum. Karou blieb einen Moment stehen, um sich zu vergewissern, dass Brimstone und Twiga weitergegangen waren, doch als sie hörte, wie ihre Stimmen sich entfernten und in der endlosen Halle verloren, schlich sie ihnen nach.
Sie glaubte sich in einer Kathedrale – aber einer Kathedrale, als hätte die Erde selbst sie in tausendjährigem Schlaf erträumt, während Wassertropfen um Wassertropfen durch den Stein sickerte. Karou befand sich in einer mächtigen natürlichen Höhle, die hoch über ihr zu einem fast perfekten gotischen Bogen aufstrebte. Tropfsteine, so alt wie die Welt, waren zu Säulen in der Form von Ungeheuern erstarrt, und die Kandelaber in dem gigantischen Gewölbe wirkten wie Sterne am Nachthimmel. Die Luft war durchdrungen von einem schweren
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