Daughter of Smoke and Bone
ganz flau. Sollte sie den Engel noch einmal sehen, würde sie sich nicht so leicht unterkriegen lassen.
Was jedoch das Studium anging, hatte sie schon so gut wie verloren. Sie hatte kein Semesterprojekt, und allein mit ihren Skizzenbüchern und gelegentlichen Besuchen würde sie sich nicht mehr lange durchmogeln können. Aber so schwer es auch war, ihr Studium aufzugeben, sie hatte größere Sorgen.
Nach den Bränden war sie als Erstes nach Marrakesch zurückgekehrt. Sie erinnerte sich daran, was Izîl ihr zugerufen hatte: »Lauf zu Brimstone, so schnell du kannst. Sag ihm, dass die Seraphim hier sind. Sie sind zurückgekommen. Du musst ihn warnen!«
Er wusste etwas. Ein Geheimnis, das er sich mit seinem Bruxis erkauft hatte. Karou hatte sich schon immer gefragt, was er erfahren hatte, doch jetzt musste sie es unbedingt herausfinden. Also hatte sie sich erneut auf die Suche nach ihm gemacht, nur um voller Bestürzung zu erfahren, dass er sich noch am selben Abend, kurz nachdem sie ihn verlassen hatte, vom Minarett der Koutoubia-Moschee gestürzt hatte. Selbstmord? Nicht sehr wahrscheinlich, dachte Karou, als sie an die seelenlose Miene des Engels zurückdachte, an sein erbarmungsloses Schwert und an die Narben, die sie ewig an ihre Begegnung erinnern würden.
Zuzana hatte ihr an der Siebdruckmaschine in der Schule sogar zwei T-Shirts gedruckt. Auf dem einen stand:
Ich hab in Marokko einen Engel getroffen – und was hab ich davon? Nichts als Narben!
, und auf dem anderen:
Ich hab einen Engel gesehen und ihr nicht. Ätsch!
Das Ganze war eine Anspielung auf die weltweite religiöse Schwärmerei, die auf die Engelsichtungen folgte. Nachdem sie anfangs als die Hirngespinste von Betrunkenen und Kindern abgetan worden waren, waren mit der Zeit immer mehr Beweise aufgetaucht, die sich nicht ignorieren ließen. Unscharfe Videos und ein paar Fotos hatten sich virusartig im Netz verbreitet und sogar ihren Weg in die Mainstream-Medien gefunden, mit Schlagzeilen wie: ›Engel des Todes: Unheil oder Unsinn?‹ Die beste Aufnahme stammte von dem Handy eines Teppichverkäufers und zeigte die Attacke auf Karou, auch wenn sie, Gott sei Dank, nur eine Silhouette im Hintergrund war, verschleiert vom Hitzeschimmer der Engelsflügel.
Soweit Karou wusste, war das das einzige Mal, dass die Engel – und es waren mehr als nur der eine gewesen – ihre Flügel offenbart hatten, doch einige Augenzeugen behaupteten, sie hätten sie fliegen gesehen – oder zumindest die Schatten ihrer Flügel. Eine Nonne in Indien hatte ein Brandmal in der Form einer Feder auf der Handfläche, das Horden von Pilgern anzog, die hofften, von der Frau gesegnet zu werden. Rapture-Kulte – religiöse Fanatiker, die an das Jüngste Gericht glaubten – hatten ihre Koffer gepackt und versammelten sich, um zusammen auf den Weltuntergang zu warten. In Internetforen tauchten jeden Tag neue Engelsichtungen auf, die Karou jedoch allesamt frei erfunden vorkamen.
»Alles Schwachsinn«, meinte sie zu Zuzana. »Nur Verrückte, die auf die Apokalypse warten.«
»Weil das so viel Spaß macht, stimmt’s?« Zuzana hatte sich mit gespielter Vorfreude die Hände gerieben. »Na endlich, die Apokalypse!«
»Aber echt. Wie beschissen muss dein Leben sein, dass du dir die Apokalypse wünschst?«
Und so verbrachten sie einen ganzen Abend in der GIFTKÜCHE – übrigens zusammen mit Mik, Zuzanas »Geiger« und jetzt offiziell festem Freund –, tranken Apfeltee und spielten:
Wie beschissen müsste dein Leben sein, dass du dir die Apokalypse wünschst?
»Es müsste so beschissen sein, dass deine Häschenpantoffeln deine einzigen Freunde sind.«
»Es müsste so beschissen sein, dass dein Hund mit dem Schwanz wedelt, wenn du
gehst
.«
»Dass du alle Lieder von Celine Dion auswendig kannst.«
»Dass du dir wünschst, die ganze Welt würde untergehen, damit du nicht noch einen einzigen Tag in deiner blöden Wohnung aufwachen musst – in der es nebenbei bemerkt überhaupt nichts Schönes gibt –, deine fiesen Kinder füttern und zu einem todlangweiligen Job gehen, wo dir ganz sicher jemand Donuts andreht, die deinen Arsch noch fetter machen.
So
beschissen müsste dein Leben sein, damit du dir die Apokalypse wünschst.«
Damit hatte Zuzana den Sieg klar gemacht.
Ach, Zuzana.
Jetzt, als Karou draußen in der Wildnis von Idaho ihren ersten Gavriel für die Erfüllung eines lebenslangen Wunsches einsetzte – der Gavriel verschwand, und sie hob vom Boden ab –,
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