DavBen-StaderDie
Vaters geerbt - ihr wird mal die Welt zu Füßen liegen.«
Erst da wurde mir klar, dass der Oberst falsche Zähne hatte, eine Brücke, die offenbar über den ganzen Oberkiefer reichte. Und schlagartig, aber mit absoluter Sicherheit, wusste ich, dass der Mann gefoltert worden war. Sie hatten ihn während der einen oder anderen Säuberung abgeholt, ihn bezichtigt, mit den Trotzkisten oder den Weißen oder den Faschisten zu sympathisieren, ihm die Zähne ausgebrochen und ihn geprügelt, bis seine Augen bluteten, bis er Blut pisste und Blut schiss, bis von irgendeiner Moskauer Dienststelle die Anweisung kam: Wir haben den Mann rehabilitiert, lasst ihn jetzt in Ruhe, er ist wieder einer von uns.
Ich konnte es mir ausmalen, weil ich es mir oft ausgemalt hatte, wenn ich mir Gedanken über die letzten Tage meines Vaters machte. Er hatte das Pech, ein Jude und ein Dichter und mäßig berühmt zu sein, einst ein guter Freund von Majakowski und Mandelstam, ein erbitterter Gegner von Obranowitsch und den anderen, die für ihn nur Sprachrohre des Systems waren, die Verseschmiede revolutionärer Lyrik, die meinen Vater als Agitator und Parasiten anprangerten, weil er über die Leningrader Unterwelt schrieb, wo es doch - offiziell - gar keine Leningrader Unterwelt gab. Mehr noch, er hatte die Verwegenheit besessen, seinem Buch den Titel Piter zu geben, den Spitznamen der Stadt, den Namen, den jeder Einheimische benutzte, der aber aus allen sowjetischen Schriften verbannt war, weil »Sankt Petersburg« die Anmaßung eines Zaren war, benannt nach dem Schutzpatron des alten Tyrannen.
An einem Sommernachmittag des Jahres 1937 holten sie meinen Vater aus den Redaktionsräumen der Literaturzeitschrift, bei der er arbeitete. Sie brachten ihn nie zurück. Für ihn kam nie der Anruf aus der Moskauer Dienststelle; eine Rehabilitierung kam nicht infrage. Ein Abwehroffizier konnte dem Staat irgendwann noch nützlich sein, ein dekadenter Dichter dagegen nicht. Er könnte im Kresty-Gefängnis oder in Sibirien oder irgendwo dazwischen gestorben sein, wir haben es nie erfahren. Falls er dort begraben wurde, so gibt es keinen Stein; falls er verbrannt wurde, so gibt es keine Urne.
Lange Zeit war ich wütend auf meinen Vater, weil er derart gefährliche Sachen schrieb; ich hielt es für idiotisch, dass ihm ein Buch wichtiger war, als bei uns zu bleiben und mir einen Klaps auf den Hinterkopf zu geben, wenn ich in der Nase bohrte. Aber später sah ich ein, dass er nicht beschlossen hatte, die Partei zu beleidigen, jedenfalls nicht bewusst, nicht so wie Mandelstam (Mandelstam mit seiner närrischen Tollkühnheit, der schrieb, Stalins dicke Finger sähen aus wie Nacktschnecken, sein Schnauzbart gleiche zwei Kakerlaken). Mein Vater wusste nicht, dass Piter gefährlich war, bis dann die offiziellen Rezensionen verfasst wurden. Er glaubte, ein Buch zu schreiben, das fünfhundert Menschen lesen würden, und vielleicht hatte er damit recht, aber zumindest einer von den fünfhundert denunzierte ihn, und das war's dann.
Der Oberst jedoch hatte überlebt, und als ich ihn so betrachtete, fragte ich mich, ob er es nicht merkwürdig fand, dass er dem Rachen des Haifischs so nahe gekommen war und sich irgendwie zurück ans Ufer hatte durchkämpfen können, dass er, der auf die Gnade eines anderen gehofft hatte, nun seinerseits entscheiden konnte, ob er Gnade walten ließ. Im Augenblick schien ihn nichts zu belasten; er sah seiner Tochter beim Eislaufen zu und klatschte, wenn sie herumwirbelte, in die Hände, die gebrochene Knöchel verrieten.
»Also, die Hochzeit ist am Freitag. Trotzdem, trotz alldem da«, sagte der Oberst mit einer ausladenden Handbewegung, die Leningrad, die Hungersnot, den Krieg einschloss, »will sie eine richtige Hochzeit, eine Hochzeit, wie es sich gehört. Das ist gut, das Leben muss weitergehen, wir kämpfen zwar gegen Barbaren, aber wir müssen Menschen bleiben, Russen. Also gibt es Musik, Tanz ... eine Torte.«
Er sah uns nacheinander an, als sei das Wort Torte von großer Tragweite und ihm daher daran gelegen, dass wir es verstanden.
»Das ist so Brauch, sagt meine Frau, wir brauchen eine Torte. Eine Hochzeit ohne Torte bringt Unglück. Ich habe mein Leben lang gegen solch abergläubische Vorstellungen gekämpft, die Popen haben sich ihrer früher bedient, damit das Volk dumm und eingeschüchtert blieb, aber meine Frau ... die will nun mal eine Torte. Na schön, soll sie die Torte backen. Seit Monaten hortet sie den Zucker, den
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