DavBen-StaderDie
Kolja aus, als wäre er einem der Propagandaplakate entstiegen, die überall in der Stadt angeschlagen waren; seine Gesichtszüge waren heroisch - markantes Kinn, gerade Nase, aschblondes Haar, das ihm in die Stirn fiel. Er war ein blendend aussehender Deserteur.
Die Soldaten eskortierten uns zu der Säulenhalle, wo Sandsäcke zu einem über einen Meter hohen MG-Nest aufgestapelt waren. Neben dem Maschinengewehr saßen zwei Soldaten, die sich eine Zigarette teilten. Kolja schnupperte und blickte sehnsüchtig auf den selbst gedrehten Stummel.
»Echter Tabak«, sagte er, bevor unsere bewaffneten Begleiter die Eingangstür aufstießen und uns hineintrieben.
Ich war noch nie in einem Herrenhaus gewesen, hatte nur in Romanen davon gelesen: den festlichen Bällen auf glänzenden Parkettböden, den Dienern, die Suppe aus silbernen Terrinen servieren, dem strengen Familienoberhaupt in seiner Bibliothek, das die weinende Tochter davor warnt, sich mit dem Burschen von niederer Geburt einzulassen. Von außen wirkte die alte Villa Dolgorukow noch immer imposant, aber innen hatte die Revolution Einzug gehalten. Der Marmorboden wies die Spuren von Abertausenden schmutzigen Stiefeln auf und war seit Monaten nicht feucht gewischt worden. Unten an den Scheuerleisten bog sich die rauchgeschwärzte Tapete nach oben. Kein Stück des ursprünglichen Mobiliar s hatte überlebt, keines der Öl gemälde und keine der chinesischen Vasen, die einst die Wände geziert und auf Teakholzregalen gestanden haben mussten.
Dutzende von Offizieren in Uniform eilten von einem Raum in den nächsten, hasteten eine geschwungene zweiarmige Treppe hinauf, deren Geländer samt den Balustern fehlte, alles vermutlich schon vor Wochen herausgerissen und verfeuert. Die Uniformen waren nicht die der Roten Armee. Kolja bemerkte, wie ich sie anstarrte.
»NKWD. Vielleicht halten sie uns für Spione.«
Kolja musste mir nicht erst sagen, dass die Männer vom NKWD waren. Von klein auf wusste ich, wie ihre Uniformen aussahen, kannte ihre spitz zulaufenden blau- und -rotbrau nen Mützen und ihre Pistolentaschen mit den Tokarews. Ich hatte den Anblick ihrer Packards zu fürchten gelernt, die mit laufendem Motor vor dem Eingang des Kirow standen, die Schwarzen Raben, und darauf warteten, irgendeinen armen Teufel abzuholen. Der NKWD verhaftete mindestens fünfzehn Männer aus unserem Haus, während ich dort lebte. Manchmal kehrten die Festgenommenen nach einigen Wochen zurück, die Köpfe kahl geschoren und die Gesichter bleich und leblos, wichen meinem Blick aus, wenn sie im Treppenhaus hinauf in ihre Wohnungen humpelten. Die gebrochenen Männer, die heimkamen, wussten mit Sicherheit, welch außergewöhnliches Glück sie hatten, aber es bereitete ihnen offenbar keine Freude, dass sie überlebt hatten. Sie wussten, was mit meinem Vater passiert war, und konnten mir nicht in die Augen sehen.
Die Soldaten schubsten uns weiter, bis wir schließlich hinten auf der Rückseite des Hauses einen Wintergarten betraten, dessen hohe Glastüren freie Sicht auf die Newa und die finsteren, plumpen Mietskasernen im Stadtteil Wyborg auf der anderen Seite des Flusses boten. An einem schlichten Holzschreibtisch, der mitten im Wintergarten stand, saß ein einzelner älterer Mann.
Er hatte einen Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt, damit er sich mit einem Füller auf einem Block Notizen machen konnte, während er zuhörte.
Er blickte flüchtig zu uns her, als wir wartend an der Tür stehen blieben. Mit seinem bulligen Nacken und der krummen, platt gedrückten Nase sah er aus wie ein ehemaliger Boxer. Die Schatten unter seinen verhangenen Augen waren tief, genau wie die Falten, die seine Stirn furchten. Sein graues Haar war extrem kurz geschoren. Er war schätzungsweise fünfzig Jahre alt, sah aber aus, als wäre er imstande, jederzeit aufzustehen und uns alle zusammenzuschlagen, ohne dass seine Uniform in Unordnung geriet. Drei Metallsterne glänzten auf den Kragenspiegeln seiner Jacke. Ich wusste nicht genau, was drei Sterne zu bedeuten hatten, aber es waren drei Sterne mehr, als sonst jemand in der Villa hatte.
Er warf den Block auf den Schreibtisch, und ich sah, dass er sich nicht, wie ich dachte, Notizen gemacht hatte, sondern schlicht ein X nach dem anderen gemalt hatte, wieder und immer wieder, bis das ganze Blatt mit X-Zeichen bedeckt war. Aus irgendeinem Grund machte mir das mehr Angst als seine Uniform oder sein Schlägergesicht. Ein Mann, der Titten oder Hunde
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