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DavBen-StaderDie

Titel: DavBen-StaderDie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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aneinander, das Kinn unter den Falten unserer Schals vergraben.
    »Was machen wir jetzt?«
    »Irgendwann wird schon jemand hineingehen oder herauskommen. Was ist eigentlich los mit dir? Du bist heute so muffelig.«
    »Gar nichts ist los mit mir«, sagte ich, aber selbst ich konnte den muffeligen Ton in meiner Stimme hören. »Erst haben wir eine Stunde gebraucht, um herzukommen, jetzt warten wir wieder eine Stunde, um reinzukommen, und dann gibt's da gar keinen alten Mann mit einem Stall voll Hühnern.«
    »Das meine ich nicht. Dir macht etwas anderes zu schaffen. Denkst du ans Kirow?«
    »Natürlich denke ich ans Kirow«, schnauzte ich ihn an, wütend über diese Frage, weil ich gar nicht an das Kirow gedacht hatte.
    »Im Herbst hatten wir einen Leutnant namens Belak. War mit Leib und Seele Soldat, hat sein Leben lang Uniform getragen, gegen die Weißen gekämpft und alles. Und der sieht eines Abends, wie unser kleiner Lewin wegen eines Briefes weint, den er gerade bekommen hat. Das war in einem Schützengraben vor Selenogorsk, kurz bevor die Finnen es zurück erobert haben. Lewin hat so geheult, dass er nicht sprechen konnte. Irgendjemand war tot, von den Deutschen umgebracht worden. Ich weiß nicht mehr, ob es seine Mutter war oder sein Vater, vielleicht die ganze Familie, aber egal. Auf jeden Fall hat Belak den Brief an sich genommen, ihn fein säuberlich zusammengefaltet, ihn Lewin in die Jackentasche gesteckt und gesagt: >Na gut, heul dich aus. Aber danach will ich dich erst wieder weinen sehen, wenn Hitler am Galgen baumelt. <«
    Kolja starrte ins Leere, sann über die Worte des Leutnants nach. Er muss sie für sehr tiefgründig gehalten haben. Für mich klangen sie gedrechselt, ähnlich wie die Phrasen, die mein Vater immer so hasste, die fingierten Dialoge, fabriziert von irgendwelchen linientreuen Journalisten für einen dieser erhebenden Artikel über »Unsere Helden an der Front«, die die Komsomolskaja Prawda, die Tageszeitung der Jugendorganisation, ständig brachte.
    »Und? Hat er aufgehört zu heulen?«
    »Ja, auf der Stelle. Hat nur noch ein bisschen geschnieft. Bloß nachts hat er wieder angefangen. Aber das ist nicht der springende Punkt.«
    »Sondern?«
    »Dass jetzt keine Zeit zum Trauern ist. Die Nazis wollen uns alle umbringen. Wir können deswegen heulen, soviel wir wollen, aber im Kampf gegen sie nützt es uns nichts.«
    »Wer heult denn hier? Ich doch nicht.«
    Kolja hörte mir nicht zu. Zwischen seinen Schneidezähnen war etwas hängen geblieben, und er versuchte, es mit dem Fingernagel herauszuholen.
    »Belak ist ein paar Tage später auf eine Landmine getreten. Üble Sache, Landminen. Was die mit dem Körper eines Menschen anrichten ...«
    Seine Stimme verlor sich, als er über den zerfetzten Körper seines alten Offiziers nachsann, und es tat mir leid, dass ich den Leutnant im Geiste beleidigt hatte. Vielleicht waren seine Worte klischeehaft, aber er hatte versucht, dem jungen Soldaten zu helfen, ihn von der Tragödie daheim abzulenken, und das zählte mehr als Originalität im Ausdruck.
    Kolja hämmerte wieder an die Haustür. Er wartete einen Moment, seufzte, starrte hinauf zu der einsam über den Himmel ziehenden Wolke. »Ich würde gern ein oder zwei Jahre in Argentinien leben. Ich habe noch nie den Ozean gesehen. Du schon?«
    »Nein.«
    »Du bist wirklich muffelig, mein kleiner Israelit. Sag mir, warum.« »Leck mich am Arsch.«
    »Das wollen wir doch mal sehen!« Er gab mir einen kleinen Schubs, tänzelte von mir weg und bewegte die Fäuste wie ein Boxer, als machten wir einen Sparringskampf.
    Ich setzte mich auf die Türstufe. Selbst diese kleine Anstrengung hatte zur Folge, dass es mir vor den Augen flimmerte. Nach dem Aufwachen hatten wir bei Sonja wieder Tee getrunken, aber es gab nichts zu essen, und ich wollte den Rest meines Bücherei-Lebkuchens für später aufheben. Ich sah zu Kolja hoch, der mich inzwischen leicht besorgt betrachtete.
    »Was hast du letzte Nacht gesagt?«, fragte ich ihn. »Als du, na, du weißt schon, als du mit ihr zusammen warst.«
    Kolja kniff die Augen zusammen, verstand die Frage nicht.
    »Mit wem? Mit Sonja? Was hab ich denn gesagt?«
    »Du hast die ganze Zeit mit ihr geredet.«
    »Als wir miteinander geschlafen haben?«
    Schon dieser Ausdruck war peinlich. Ich nickte. Kolja runzelte die Stirn. »Mir war gar nicht bewusst, dass ich etwas gesagt habe.« »Du hast die ganze Zeit geredet!«
    »Das Übliche, nehme ich an.« Plötzlich erhellte ein

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