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DavBen-StaderDie

Titel: DavBen-StaderDie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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ich ihn brauchte, auch wenn eine weitere Woche ohne Nahrung sie mit Sicherheit umbrachte - unter der fast durchsichtigen Haut war die Form ihres Schädels nur allzu leicht auszumachen. Vielleicht mochte ich sie deshalb so, weil ich sie dreißig Minuten nach dem Anblick der Grabsteine des Kirow kennenlernte. Vielleicht hielt mich die Begegnung mit Sonja davon ab, zu viel über meine Nachbarn nachzudenken, die unter den eingestürzten Betonplatten eingeschlossen waren.
    Selbst wenn mir diese Bilder durch den Kopf schössen, waren sie ohne Widerhaken, glitten hindurch, und ich ertappte mich dabei, dass ich wieder an die Tochter des Obersts dachte oder an den Oberst selbst oder an den Riesen, wie er uns mit seinem Stahlrohr die Treppe hinunter verfolgte, oder an die Frau auf dem Heumarkt, die Gläser mit Badajew-Erde verkaufte. Wenn ich überhaupt an das Kirow dachte, dann an das Haus selbst, den Schauplatz meiner Kindheit, mit seinen langen Korridoren, die sich so hervorragend für Wettrennen eigneten, seinen Treppenhäusern mit den Bleiglasfenstern, die mit einer so dicken Staubschicht bedeckt waren, dass man mit dem Finger Gesichter hineinmalen konnte, an den Hof, wo sich beim ersten starken Schneefall des Winters alle Kinder zur alljährlichen Schneeballschlacht versammelten, erster bis dritter Stock gegen vierter bis sechster Stock.
    Meine Freunde und Nachbarn - Vera und Oleg und Grischa und Ljuba Nikolajewna und Sawodilow - schienen schon keine Realität mehr zu sein, als hätte ihr Tod ihr Leben ausradiert. Vielleicht war mir immer bewusst gewesen, dass sie eines Tages verschwinden würden, und so hatte ich sie auf Distanz gehalten, über ihre Witze gelacht und mir ihre Pläne angehört, aber nie wirklich auf sie vertraut. Ich hatte mich zu schützen gelernt. Als die Polizei meinen Vater abholte, war ich noch ein dummer Junge und außerstande zu begreifen, wie ein Mann - dieser eigenwillige, brillante Mann - auf das Fingerschnalzen eines fernen Bürokraten hin zu existieren aufhören konnte, als wäre er nichts weiter als Zigarettenrauch, den ein gelangweilter Aufseher in einem Wachturm in Sibirien ausstieß, ein Aufseher, der sich fragt, ob ihn seine Freundin daheim betrog, der über die winterlichen Wälder blickt, ohne zu ahnen, dass der große blaue Rachen des Himmels über ihm nur darauf lauerte, den sich kräuselnden Rauch und den Aufseher und alles, was unten auf der Erde wuchs, zu verschlingen.
    Kolja begann sich von den Mädchen zu verabschieden, während er die Eimer hinter der Wohnungstür abstellte, und bedeutete mir, dies ebenfalls zu tun.
    »Passt bloß auf da oben«, sagte eines der Mädchen, vermutlich die Verwegenere der beiden. »Er ist achtzig Jahre alt, aber der erschießt euch auf Anhieb.«
    »Ich habe an der Front gegen den Fritz gekämpft«, sagte Kolja mit einem beruhigenden Lächeln und zwinkerte ihr zu. »Da werde ich ja wohl noch mit einem kauzigen alten Opa fertig werden.«
    »Wenn ihr auf dem Rückweg was zu essen wollt, wir machen Suppe«, sagte das zweite Mädchen. Die Verwegenere warf ihr einen scharfen Blick zu, und ich fragte mich, ohne dass es mich sonderlich interessiert hätte, ob sie sich über die angebotene freie Mahlzeit ärgerte oder über das kokette Benehmen.
    Kolja und ich stiegen die letzte Treppenflucht zur Dachtür hinauf.
    »Folgender Plan«, sagte er zu mir. »Lass mich reden. Ich weiß, wie man mit alten Leuten umgeht.«
    Ich stieß die Tür auf, und der Wind erfasste uns, blies uns Eisstückchen und Staub ins Gesicht, den Schmutz der Großstadt. Wir zogen die Köpfe ein und hasteten vorwärts, zwei Beduinen in einem Sandsturm. Vor uns war eine Fata Morgana, es konnte nur eine Fata Morgana sein - ein Schuppen, zusammengenagelt aus Holzbrettern und Dachpappe, die Zwischenräume mit Stofffetzen und alten Zeitungen zugestopft. Ich war ein waschechtes Stadtkind; ich war noch nie auf einem Bauernhof gewesen, noch hatte ich jemals auch nur eine Kuh gesehen; aber ich wusste sofort, dass das ein Hühnerstall war. Kolja sah mich an. Vom Wind tränten uns die Augen, aber wir grinsten beide wie Schwachsinnige.
    Auf der einen Seite des Hühnerstalls befand sich eine schiefe Tür mit einem Haken außen, der aber nicht eingehängt war. Kolja klopfte leise an. Niemand antwortete.
    »Hallo? Bitte nicht schießen! Ha, ha! Wir wollen Ihnen nur einen Besuch abstatten ... Hallo? Also gut, ich mache jetzt die Tür auf. Wenn das keine gute Idee ist, wenn Sie vorhaben zu schießen, dann

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