DavBen-StaderDie
sagen Sie was.«
Kolja trat seitlich neben die Tür, bedeutete mir, das ebenfalls zu tun, und stieß mit der Stiefelspitze langsam die Tür auf. Wir warteten auf einen lauten Fluch oder einen Schuss, doch es kam nichts. Als wir es für sicher hielten, spähten wir in den Stall. Drinnen war es dunkel, Licht kam nur von einer kleinen Petroleumlampe, die an einem Haken an der Wand hing. Der Boden war mit altem Stroh bedeckt, das nach Hühnerdreck stank. Entlang der einen Wand waren leere Lege käfige aufgestapelt, jeder gerade groß genug für ein einzelnes Huhn. Am anderen Ende des Stalls saß ein Junge, den Rücken an die Wand gelehnt, die Knie an die Brust gezogen. Er trug einen Damenmantel aus Kaninchenfell. Er sah lächerlich aus, aber er hatte es warm.
Im Stroh unter den Käfigen saß ein toter Mann, den Rücken an die Wand gelehnt, die Glieder steif und von sich gestreckt wie eine weggelegte Marionette. Er hatte einen langen weißen Bart, den Bart eines Anarchisten aus dem 19. Jahrhundert, und eine Haut wie geschmolzenes Kerzenwachs. Auf seinem Schoß lag eine uralte Schrotflinte. Allem Anschein nach war er schon seit Tagen tot.
Kolja und ich starrten auf die grausige Szene. Wir waren in das ganz persönliche Elend eines anderen geraten und kamen uns plötzlich wie Eindringlinge vor. Zumindest ging es mir so. Doch Kolja plagten Schamgefühle nicht annähernd so wie mich. Er ging in den Stall, kniete sich neben dem Jungen hin und legte ihm die Hand aufs Knie.
»Alles in Ordnung, kleiner Soldat? Brauchst du Wasser?« Der Junge sah ihn nicht an. Seine blauen Augen wirkten riesengroß in dem ausgehungerten Gesicht. Ich brach ein Stück von meinem Bücherei-Lebkuchen ab, ging in den Stall und hielt es dem Jungen hin. Seine Augen bewegten sich langsam in meine Richtung. Er schien mich und das bisschen Essen in meiner Hand zu registrieren, bevor er wieder wegsah. Er war schon fast nicht mehr da.
»Ist das dein Großvater?«, fragte Kolja. »Wir sollten ihn nach unten bringen. Es ist nicht gut für dich, hier allein bei ihm zu sitzen.«
Der Junge machte den Mund auf, und selbst das schien ihn große Mühe zu kosten. Seine Lippen waren verkrustet, als wären sie zusammengeklebt.
»Er will die Hühner nicht alleinlassen.«
Kolja warf einen Blick auf die leeren Käfige.
»Ich glaube, das kann er jetzt. Komm mit, unten wohnen zwei nette Mädchen, die geben dir Suppe und Wasser zu trinken.«
»Ich hab kein' Hunger«, sagte der Junge, und da wusste ich, dass es mit ihm zu Ende ging.
»Komm trotzdem mit«, sagte ich. »Hier ist es viel zu kalt. Wir wärmen dich auf, besorgen dir ein bisschen Wasser.«
»Muss auf die Hühner aufpassen.«
»Die Hühner sind weg«, sagte Kolja.
»Nicht alle.«
Ich bezweifelte, dass der Junge den nächsten Tag erleben würde, aber ich wollte ihn hier nicht allein sterben lassen, allein mit dem bärtigen Leichnam und den leeren Käfigen. Tote gab es in Piter überall: Sie wurden hinter dem städtischen Leichenschauhaus zu hohen Haufen aufgestapelt, vor dem Piskarewskoje-Friedhof in offenen Gruben verbrannt, auf dem Eis des Ladoga-Sees abgelegt, sodass die Möwen etwas zu picken hatten, falls es noch Möwen gab. Aber das hier war ein einsamerer Ort für das Ende als alles, was ich bisher gesehen hatte.
»Schau«, sagte Kolja und rüttelte an den leeren Käfigen. »Keins mehr da. Du warst ein guter Wächter, du hast die Hühner beschützt, aber jetzt sind sie weg. Also komm mit.«
Er streckte die behandschuhte Hand aus, doch der Junge ignorierte sie.
»Ruslan hätt' euch erschossen.«
»Ruslan?« Kolja warf einen Blick auf den Leichnam des alten Mannes. »Ruslan war ein wilder Geselle, was? Das sieht man gleich. Ich bin froh, dass du ein friedlicherer Bursche bist.«
»Er hat gesagt, alle im Haus wollen unsere Hühner.«
»Da hat er recht gehabt.«
»Er hat gesagt, die kommen rauf und schneiden uns die Kehle durch, wenn wir nich t aufpassen. Stehlen unsere Hüh ner und machen Suppe draus. Darum hat immer einer von uns wach bleiben müssen, mit der Schrotflinte in der Hand.«
Der Junge sprach völlig monoton, sah uns nie an, der Blick verschwommen und unscharf. Ich merkte inzwischen, dass er zitterte und mit d en Zähnen klapperte, wenn er ge rade nichts sagte.
Auf seinen Wangen und auf seinem Hals breitete sich fleckartig hellbrauner Flaum aus, die letzte Anstrengung seines Körpers, sich irgendwie zu schützen.
»Er hat gesagt, dass sie un s am Leben erhalten, bis die Be
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