DavBen-StaderDie
goss aus einem Krug ein Rinnsal Flusswasser in eine Untertasse, die sie in Goldstücks Nest stellte. Goldstück funkelte sie an, machte aber keine Anstalten, das Wasser zu trinken.
Sonja setzte sich wieder und seufzte. Nachdem sie sich einen Moment von der Anstrengung erholt hatte, wandte sie sich dem Nähkasten zu, der neben ihrem Stuhl stand, griff nach einer Socke mit Löchern, nahm Nadel und Faden sowie ein Stopfei aus Porzellan, das sie in die Ferse schob, um die Socke straff zu ziehen. Ich sah ihren knochigen Fingern bei der Arbeit zu. Sie war eine hübsche junge Frau, doch ihre Hände sahen aus wie die des Sensenmannes, blass und ohne Fleisch. Aber sie wusste, wie man Socken stopft. Die Nadel blitzte im Lampenlicht, bewegte sich auf und ab, auf und ab, machte mich schläfrig.
»Wisst ihr, wer eine miese kleine Fotze ist?«, fragte Kolja aus heiterem Himmel. »Natascha Rostow.«
Der Name kam mir bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht gleich einordnen.
Sonja runzelte die Stirn, sah aber nicht von ihrer Stopf arbeit auf. »Das Mädchen in Krieg und Frieden!«
»Ich kann das Luder nicht ausstehen. Alle Leute verlieben sich in sie - jeder Einzelne, sogar ihre Brüder -, und dabei hat sie bloß Stroh im Kopf.«
»Vielleicht gerade deshalb », sagte Sonja.
Obwohl ich schon fast am Einschlafen war, lächelte ich unwillkürlich. Einen Mann, der eine Romanfigur mit solcher Inbrunst verachtete, musste man einfach mögen, und wenn er noch so viele irritierende Eigenschaften hatte.
Sonja stopfte mit geschickten, skelettartigen Händen die Löcher in der Socke. Kolja trommelte sich mit den Fingern auf die Oberschenkel und sann mit finsterer Miene über Natascha Rostow und die Ungerechtigkeit des Ganzen nach. Goldstück zitterte trotz des warmen Zimmers, versuchte Kopf samt Schnabel in den Körper einzuziehen, als träumte sie, sie sei eine Schildkröte.
Im Radio sprach der Dramatiker Gerassimow: »Tod den Feiglingen! Tod den Panikmachern! Tod den Verbreitern von Gerüchten! Sie werden die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Disziplin. Tapferkeit. Entschlossenheit. Und denkt immer daran: Leningrad fürchtet sich nicht vor dem Tod. Der Tod fürchtet sich vor Leningrad.«
Ich schnaubte, und Kolja sah zu mir her.
»Was ist? Magst du den alten Gerassimow nicht?«
»Was kann man an dem schon mögen!«
»Er ist immerhin ein Patriot. Er ist hier in Piter geblieben, nicht an einem sicheren Ort wie die Achmatowa und ihre Konsorten.«
»Lew hat recht«, sagte Sonja und warf eine Handvoll Holzspäne in den Ofen. Der Feuerschein fiel auf ihr dünnes blondes Haar, und einen Moment lang waren ihre kleinen Ohren hochrot und durchscheinend. »Er ist nichts weiter als ein Propagandist der Partei.«
»Er ist schlimmer als das«, sagte ich und konnte hören, wie sich Zorn in meine Stimme schlich. »Er bezeichnet sich als Schriftsteller, dabei hasst er Schriftsteller - er liest ihre Sachen nur, um festzustellen, ob sie etwas Gefährliches geschrieben haben, etwas Beleidigendes. Und wenn er entscheidet, dass das der Fall ist, tja, dann ist das s o; er denunziert sie beim Polit büro, greift sie in der Zeitung an, im Radio. Wenn irgendwo in einem Komitee jemand sagt: >Gerassimow sagt, dieser Mann ist eine Gefahr, und Gerassimow ist schließlich einer von uns, folglich ist dieser Mann eine Gefahr<, und dann ...«
Ich brach mitten im Satz ab. Meine verbitterte Stimme schien in der kleinen Wohnung widerzuhallen, obwohl ich es mir vermutlich nur einbildete, weil es mir peinlich war, dass ich zu früh zu viel verraten hatte. Sonja und Kolja starrten mich an - sie schien meinetwegen besorgt zu sein, während er beeindruckt schien, als hätte er mich die ganze Zeit für taubstumm gehalten und gerade entdeckt, dass ich ja Wörter bilden konnte.
»Dein Vater war Abraham Beniow.«
Ich sagte nichts, denn Kolja hatte ja keine Frage gestellt. Er nickte, als wäre ihm plötzlich alles klar.
»Darauf hätte ich schon früher kommen müssen. Ich weiß gar nicht, warum du das verheimlichen willst. Der Mann war ein Dichter, ein echter Dichter, davon gibt's nicht viele. Du solltest stolz sein.«
»Von dir brauche ich mir nicht sagen zu lassen, dass ich stolz auf ihn sein kann«, fauchte ich ihn an. »Wenn du mir einen Haufen blöder Fragen stellst und ich sie nicht beantworten will, dann ist das meine Sache. Ich spreche nicht mit Fremden über meine Familie. Aber sag du mir nie wieder, dass ich auf meinen Vater stolz sein
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