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DavBen-StaderDie

Titel: DavBen-StaderDie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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behandschuhte Hand auf meine Brust, und einen Moment lang dachte ich, er sei wütend auf mich, beleidigt, weil ich nicht gewillt war, der Winternacht im Freien zu trotzen. Aber er wollte mir keine Vorhaltungen machen; er wollte, dass ich stehen blieb. Er deutete mit dem Kinn auf eine Zufahrtsstraße, die parallel zu den Bahngleisen verlief. Sie war ein paar Hundert Meter entfernt, und das Licht wurde immer schwächer, aber es war noch hell genug, sodass wir den rus sischen Soldaten sahen, der dort mit dem Rücken zu uns stand, das Gewehr über der Schulter.
    »Ein Partisan?«, flüsterte ich.
    »Nein, reguläre Armee.«
    »Vielleicht haben wir Beresowka zurückerobert. Ein Gegenangriff?«
    »Vielleicht«, flüsterte Kolja. Wir schlichen uns vorsichtig näher an den Wachposten heran. Wir wussten nicht, wie die Parole lautete, und niemand mit einem Gewehr würde lange warten und sich erst vergewissern, ob wir wirklich Russen waren.
    »Genosse!«, rief Kolja, als wir fünfzig Meter entfernt waren, mit erhobenen Händen. Ich nahm meine ebenfalls hoch. »Nicht schießen! Wir sind in besonderem Auftrag hier!«
    Der Wachposten drehte sich nicht um. In den letzten Monaten hatten viele Soldaten das Gehör verloren; explodierende Granaten hatten Tausende von Trommelfellen zerrissen. Kolja und ich sahen uns an und gingen weiter auf ihn zu. Der Soldat stand bis zu den Knien im Schnee. Er war viel zu still. Kein Mensch konnte bei derart strengem Frost wie eine Statue dastehen. Ich drehte mich ein Mal im Kreis herum, suchte den Wald ab, überzeugt, dass es eine Falle war. Nichts bewegte sich, nur die Birkenzweige im Wind.
    Wir erreichten den Soldaten. Er muss zu seiner Zeit ein brutaler Kerl gewesen sein, mit seiner gewölbten Stirn und Handgelenken so dick wie Holzscheite. Aber er war seit Tagen tot, die papierweiße Haut zu straff um seinen Schädel gespannt, kurz davor zu platzen. Direkt unter dem linken Auge befand sich ein sauberes kleines Einschussloch, das mit gefrorenem Blut verkrustet war. Um den Hals hatte er an einem Draht ein hölzernes Schild hängen, auf dem in schwarzen Buchstaben und auf Deutsch Proletarier aller Länder, vereinigt euch! stand. Ich sprach kein Deutsch, doch diesen Satz kannte ich, so wie ihn jedes Kind in Russland kannte, das sich endlose Vorträge über dialektischen Materialismus hatte anhören müssen.
    Ich nahm dem toten Soldaten vorsichtig das Schild ab, achtete darauf, dass der eiskalte Draht nicht sein Gesicht streifte, und warf es weg. Kolja öffnete den Tragriemen des Gewehrs und inspizierte die Waffe: eine Mosin-Nagant mit verbogenem Schlagbolzen. Er versuchte es ein paar Mal, schüttelte den Kopf und ließ das Gewehr zu Boden fallen. Der Soldat trug eine Pistolentasche mit einer Tokarew; durch eine Öffnung am Griff der Waffe lief ein schmales ledernes Band, mit dem sie an der Pistolentasche befestigt war. Der Tote war ein Offizier, ein Pistolenschwinger - die Tokarew war nicht für Deutsche bestimmt, sondern für Russen, die sich weigerten vorzurücken.
    Kolja zog die Pistole heraus, machte das Band ab, blickte von unten in den Griff und sah, dass das Magazin entfernt worden war. Die Munitionsschlaufen am Gürtel des Offiziers waren ebenfalls leer. Kolja knöpfte den Mantel des Mannes auf und fand, wonach er suchte, ein Jutesäckchen mit einem Lederriemen und einer Stahlschnalle.
    »Manchmal schieben wir sie nachts unter den Mantel«, sagte er, machte das Säckc hen auf und zog drei Pistolenma gazine heraus. »Die Schnalle glänzt zu sehr, reflektiert das Mondlicht.«
    Er schob eines der Magazine ein und lud durch. Zufrieden, dass die Pistole funktionsfähig war, steckte er sie und die Ersatzmunition in seine Manteltasche.
    Wir versuchten, den Toten aus dem Schnee zu ziehen, aber er war am Boden festgefroren, so verwurzelt wie ein Baum. Die Abenddämmerung saugte die letzten Farben aus dem Wald; es war schon fast Nacht; wir hatten keine Zeit für Leichen.
    Wir hasteten ostwärts weiter, gingen nun dicht neben den Gleisen und hofften für den Fall, dass sich Deutsche durch die froststarren Wälder bewegten, dass sie in Fahrzeugen saßen und von Weitem zu hören waren. Die Krähen hatten zu krächzen aufgehört, und der Wind hatte sich gelegt. Die einzigen Geräusche waren unsere Stiefel, die im Schnee einsanken, und der ferne, unregelmäßige Trommelschlag der Granaten, die auf Piter fielen. Ich versuchte, mein Gesicht hinter meinem Wollschal und dem Kragen meines Mantels zu verstecken,

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