DavBen-StaderDie
Land. Ein wunderschönes Land.« Er senkte den Kopf und zog wieder bedauernd die Schultern hoch. »So viel Gerede, werdet ihr denken, aber schließlich sind wir immer noch im Krieg, stimmt's? Die Wahrheit ist, meine Freunde, wir brauchen euch. Jeder von euch wird der guten Sache dienen. In euren Händen haltet ihr Exemplare der Lügenpresse eures famosen Regimes. Ihr wisst ja, wie ehrlich die Zeitungen sind! Man hat euch gesagt, dass dieser Krieg niemals stattfinden wird, und da sind wir! Man hat euch gesagt, dass die Deutschen bis zum August aus dem Land geworfen sind, aber sagt mir«, und an dieser Stelle zitterte er bühnenreif, »fühlt es sich für euch wie August an? Aber egal, lassen wir das. Jeder von euch wird laut einen Absatz vorlesen. Diejenigen, die wir für des Lesens und Schreibens kundig halten, kommen mit uns nach Wyborg, wo ich euch drei Mahlzeiten täglich verspreche und ihr Dokumente für die provisorische Regierung übersetzen werdet. Und das in einem geheizten Gebäude! Was die anderen betrifft, nun ... deren Arbeit wird ein wenig schwerer sein. Ich war zwar noch nie in den Stahlwerken in Estland, aber wie ich höre, kann es da ziemlich gefährlich sein. Auf jeden Fall bekommt ihr bei uns etwas Besseres zu futtern als den Fraß, den es bei der Roten Armee gibt - und was ihr Zivilisten in den letzten Monaten gegessen habt, wage ich mir gar nicht erst vorzustellen.«
Einige der älteren Bauern stöhnten und schüttelten den Kopf, suchten Blickkontakt untereinander, sahen sich achselzuckend an. Der Offizier nickte dem Dolmetscher zu, und gleich darauf begannen die beiden, die Gefangenen zu testen. Sie brauchten nur wenige Sätze zu hören, um den Bildungsstand des jeweiligen Russen zu beurteilen. Ich betrachtete meine Ausgabe der Komsomolskaja Prawda. Über dem Aufmacher stand eine fett gedruckte Ermahnung von Stalin persönlich: LANDSLEUTE! GENOSSEN! EWIGER RUHM DEN HELDEN, DIE IHR LEBEN GABEN FÜR DIE FREIHEIT UND DAS WOHL UNSERES VOLKES!
Die alten Bauern zuckten mit den Schultern und gaben ihre Zeitungen den Deutschen zurück, ohne einen Blick auf den Text zu werfen. Viele der jüngeren Männer aus den Kolchosen brachten mühsam einige Wörter zusammen. Diese Gefangenen nahmen den Test ernst, runzelten angestrengt die Stirn, während sie die Buchstaben zu entziffern versuchten. Doch die Deutschen lachten gutmütig über die Fehler, klopften den Analphabeten auf die Schulter, scherzten mit ihnen.
»Du hast es wohl nicht so mit Büchern, stimmt's? Warst viel zu sehr hinter den Mädchen her, was?«
Schon bald entspannten sich die Gefangenen und riefen ihren Freunden am anderen Ende der Reihe zu. Sie fielen in das Gelächter ihrer Häscher ein, wenn sie stockend Wörter buchstabierten. Einige dachten sich ihre eigenen Texte aus, taten so, als würden sie lesen, erfanden Berichte über Schlachten vor Moskau oder die Bombardierung von Pearl Harbor, ahmten ganz passabel den Stil der Berichterstatter nach, die sie im Radio gehört hatten. Den Deutschen schien diese List Spaß zu machen; beide Seiten wussten, dass keiner darauf hereinfiel. Die Deutschen ließen jeden, der bei diesem Test versagte, nach links treten. Die ersten Männer, die dort standen, schienen sich angesichts der öffentlichen Demütigung zu schämen, wurden aber bald munterer, als die Gruppe der Analphabeten wuchs.
»Was, Sascha, du auch? Ich hab immer gedacht, du bist der Schlauste von uns!«
»Schaut mal, wie der da drüben vor dem Offizier herumdruckst! Komm schon her, komm her, du gehst mit uns ins Stahlwerk! Oder hast du gedacht, du kannst in einem warmen Büro sitzen? So ein Witzbold; schaut ihn euch an, plagt sich immer noch ab!«
»Sieh an, der alte Edik! Glaubst du, du schaffst es bis nach Estland? Was? Komm her, nur Mut, wir helfen dir schon!«
Die Männer, die lesen konnten, wollten die Deutschen beeindrucken. Sie deklamierten ihren Text wie Schauspieler, die einen Monolog vortragen. Viele von ihnen lasen eifrig weiter, nachdem man sie aufhören hieß, sprachen die schwierigeren Wörter besonders flüssig aus, demonstrierten, dass sie mit dem Wortschatz vertraut waren. Diese Männer traten nach rechts, stolz und strahlend, nickten ihren gebildeten Kameraden zu, erfreut über die Wendung, die der Tag genommen hatte. Wyborg war nicht weit weg, und in einem geheizten Gebäude bei drei Mahlzeiten täglich zu arbeiten war um einiges besser, als die ganze Nacht im Schützengraben zu hocken und darauf zu warten, mit
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