David und Goliath
Alter eine außergewöhnliche Hand-Auge-Koordination und stellt fest, dass ihm das Golfspiel Spaß macht, also übt er eifrig. Und weil ihm das Training Spaß macht, wird er immer besser. So entsteht ein Selbstverstärkungseffekt. Das könnte man als »Stärken stärken« beschreiben: Wir entwickeln bestimmte Fähigkeiten, weil wir uns auf unsere natürlichen Stärken spezialisieren.
Doch die wünschenswerten Schwierigkeiten gehorchen einer anderen Logik. In ihrem CRT-Experiment entlockten Alter und Oppenheimer ihren Teilnehmern bessere Leistungen, indem sie ihnen das Leben schwerer machten und sie zwangen, einen Mangel zu kompensieren. Auch Boies musste eine Schwäche wettmachen, als er Zuhören lernte. Ihm blieb gar nichts anderes übrig. Das Lesen bereitete ihm derartige Schwierigkeiten, dass er sich mühsam eine Strategie zurechtlegen musste, um mit den anderen in seiner Umgebung mithalten zu können.
Die meisten Menschen lernen, in dem sie ihre Stärken stärken. Das ist einfach und naheliegend. Wenn Sie eine gute Singstimme und ein gutes Ohr haben, dann muss man Sie nicht lange überreden, im Chor zu singen. Der Ausgleich von Schwächen ist dagegen schwierig. Wer die Wörter einer Geschichte auswendig lernt, während die Mutter sie vorliest, und diese Wörter später so überzeugend wiedergibt, dass alle meinen, er würde sie vorlesen, der muss seine Schwächen kompensieren. Er muss das Gefühl der Unsicherheit und Demütigung überwinden. Er muss aufmerksam genug zuhören, um sich die Wörter einzuprägen, und er muss außerdem ein überzeugender Schauspieler sein.Den meisten Menschen mit ähnlichen Behinderungen gelingt dies nicht. Doch diejenigen, die es schaffen, haben einen echten Vorteil, denn etwas, das aus einer Notwendigkeit heraus gelernt wird, ist stärker als etwas, das man ohne Schwierigkeiten lernt. 51
Viele Legastheniker erzählen ähnliche Geschichten. Ein weiteres Beispiel ist die Kindheit eines Mannes namens Brian Grazer. »Ich war ein grottenschlechter Schüler«, erinnert er sich. »Ich war furchtbar nervös und habe ewig gebraucht, um meine Hausaufgaben zu machen. Dabei habe ich stundenlang vor mich hin geträumt, weil ich die Wörter nicht lesen konnte. Ich habe anderthalb Stunden herumgesessen und absolut nichts fertiggebracht. In der 7., 8., 9. und 10. Klasse habe ich vor allem Sechsen kassiert, ab und zu mal eine Fünf und ganz selten eine Vier. Ich bin nur weitergekommen, weil meine Mutter nicht zugelassen hat, dass sie mich ein Jahr wiederholen lassen.«
Aber wie kam Grazer durch die Schule? Vor jedem Test legte er sich eine Strategie zurecht, schon in der Grundschule. »Am Abend vorher habe ich mich mit jemandem zusammengesetzt, der den Stoff beherrscht hat«, erinnert er sich. »Was wirst du machen? Wie wirst du diese und jene Frage beantworten? Ich habe überlegt, wie die Fragen lauten könnten, und wenn ich eine Möglichkeit hatte, vorher an die Fragen zu kommen, dann habe ich das gemacht.«
Als er in die High School kam, hatte er längst eine bessere Strategie entwickelt. »Ich habe über jede Note verhandelt. Jedes Mal, wenn wir Zeugnisse bekommen haben, bin ich zu jedem Lehrer einzeln hingegangen. Ich habe so lange gefeilscht, bis ich statt einer Fünf eine Vier hatte und statt einer Vier eine Drei. Meistens hat es geklappt. Ich habe sie einfach zermürbt. Irgendwann hatte ich das richtig gut drauf. Ich habe immer mehr Selbstbewusstsein entwickelt. In der Universität habe ich vor jeder Prüfung gelernt, aber ich habe schon gewusst, dass ich nachher stundenlang mit meinen Professoren diskutieren würde. Ich habe gelernt, meinen Standpunkt zu vertreten. Das war eine gute Vorbereitung.« Mit »gute Vorbereitung« spielt Grazer auf seinen späteren Beruf an. Heute ist er einer der erfolgreichsten Hollywoodproduzenten der letzten 30 Jahre. 52
Natürlich wollen viele Eltern ihren Kindern Überzeugungskunst vermitteln. Aber ein normales, gut angepasstes Kind muss diese Lektionen nicht allzu ernst nehmen. Wer mit guten Noten nach Hause kommt, hat es nicht nötig, um jedes Pünktchen zu feilschen oder sich schon als Neunjähriger Überlebensstrategien zurechtzulegen. Doch Grazer lernte Verhandeln, weil er genau wie Boies mit dem Rücken zur Wand stand. Er übte jeden Tag und lernte, aus der Verhandlung seine Stärke zu machen – und in Hollywood brauchte er genau diese Fähigkeit. Wäre Brian Grazer dort hingekommen, wo er heute ist, wenn er nicht Legastheniker
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