David und Goliath
Obergeschoss und einem Klo im Hinterhof. Die Häuschen waren dunkel und feucht. Die wenigsten Familien hatten einen Kühlschrank und mussten täglich ihr Brot kaufen, weil es ihnen sonst verschimmelte. Doch die Ausgangssperre dauerte inzwischen36 Stunden, und den Familien ging das Essen aus. Die katholischen Familien im Westen von Belfast sitzen so eng aufeinander und sind durch Heirat und Verwandtschaft so eng miteinander verbunden, dass sich die Nachricht von der Notlage in Lower Falls schnell verbreitete. Harriet Carson lief durch Ballymurphy und schlug Topfdeckel aufeinander. Ihr folgte eine Frau namens Maire Drumm 142 mit einem Kuhhorn. Sie liefen durch die Straßen der katholischen Viertel im Westen von Belfast und riefen den Frauen zu: »Kommt raus! Füllt eure Kinderwagen mit Brot und Milch! Die Kinder haben nichts zu essen!«
Die Frauen strömten in Gruppen zu zwei, vier, zehn und zwanzig zusammen, bis sich mehrere Tausend Frauen versammelt hatten. »Einige hatten noch die Lockenwickler im Haar und Schals um den Kopf«, erinnert sich Lawlor. »Wir haben uns untergehakt und gesungen: ›We shall overcome.‹«
»Als wir am Eingang zu Lower Falls angekommen sind, war die Stimmung geladen. Die Briten haben mit ihren Helmen und Gewehren im Anschlag dagestanden. Sie hatten die Gummiknüppel in der Hand. Wir sind in die Grosvenor Road gebogen und haben gesungen und gerufen. Ich glaube, die Briten waren geschockt. Sie konnten nicht glauben, dass diese Frauen mit ihren Kinderwagen es mit ihnen aufnehmen wollten. Ich erinnere mich an einen Soldaten, der sich am Kopf gekratzt hat. Wahrscheinlich hat er gedacht: ›Was machen wir nur mit diesen Frauen? Sollen wir jetzt gegen die vorgehen, oder was?‹ Dann sind wir in die Slate Street gebogen, wo die Schule war – meine Schule. Und da waren die Briten. Sie kamen aus der Schule geschossen, und es gab ein Handgemenge. Die haben uns die Haare ausgerissen. Die Briten haben uns einfach geschnappt und gegen die Wand geschmissen. Sie haben uns geschlagen. Und wenn eine hingefallen ist, musste sie schnell wieder aufstehen, damit sie nicht zusammengetreten wurde. Sie waren brutal. Ich habe mich auf ein Auto gestellt, um zu sehen, was weiter vorn los ist. Dann habe ich einen Mann gesehen, der hatte noch den Rasierschaum im Gesicht und hat sich die Hosenträger hochgezogen – und plötzlich haben die Soldaten aufgehört, uns zu verprügeln.«
Der Mann mit dem Rasierschaum im Gesicht war der Kommandantdes Kontrollpostens an der Slate Street. An diesem Tag war er womöglich die einzige Stimme der Vernunft auf britischer Seite und der Einzige, der das Ausmaß der sich anbahnenden Katastrophe erkannte. Eine Einheit schwer bewaffneter Soldaten schlug auf eine Gruppe von Frauen mit Kinderwagen ein, die den Kindern in Lower Falls Essen bringen wollten. 143 Er gebot seinen Männern Einhalt.
» Der Frauen sind immer noch die Straße heruntergekommen, und die Frauen ganz hinten hatten keine Ahnung, was vorne passiert ist. Es sind immer mehr geworden. Frauen haben geweint. Leute sind aus ihren Häusern gekommen und haben Frauen reingeholt, es hat so viele Verletzte gegeben. Sobald die Leute raus auf die Straße gekommen sind, haben die Briten die Kontrolle verloren. Alle sind rausgekommen, es waren Hunderte. Es war wie ein Dominoeffekt. Erst sind sie in einer Straße rausgekommen, dann sind in der nächsten die Türen aufgegangen, und dann in der nächsten und in der nächsten. Die Briten haben aufgegeben. Die Frauen sind nachgedrängt, wir haben gedrängt und gedrängt und gedrängt, bis wir drin waren. Und wir haben es geschafft und haben die Ausgangssperre gebrochen. Ich habe oft drüber nachgedacht. Mein Gott, wir haben uns alle so gefreut. Wir haben es geschafft.
Ich erinnere mich noch, wie ich heimgekommen bin. Plötzlich war ich ganz nervös und habe gezittert. Später habe ich mit meinem Vater darüber gesprochen. Ich habe zu ihm gesagt, ›Du hast Recht. Sie sind auf uns losgegangen.‹ Und er hat gesagt: ›Ja. Die britische Armee. Dazu ist sie gut.‹ Und er hatte Recht. Sie sind auf uns losgegangen. Und so hat es angefangen. «
KAPITEL 8
Wilma Derksen
Jeder von uns hat irgendwann mal was Schreckliches getan, oder hat zumindest das Bedürfnis gehabt.
Wilma Derksen
1
An einem Juni-Wochenende des Jahres 1992 kam die Tochter von Mike Reynolds von der Universität nach Hause, um eine Hochzeit zu besuchen. Kimber war 18 Jahre alt, hatte langes honigblondes Haar und
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