Davids letzter Film
ganz plötzlich ein Antlitz zu geben
schien. Als hätte er endlich den Menschen gefunden, den er so lange schon gesucht hatte. Gleichzeitig war ihm klar, dass jeder
Mann in ihrer Anwesenheit so empfinden musste. Niemand, der Frauen liebte, würde sich Theas Ausstrahlung entziehen können,
dessen war Flo sich sicher. Deshalb war David mit ihr zusammen. David war immer ein Freund attraktiver Frauen gewesen und
hatte keine Mühen gescheut, wenn es darum ging, sie auf sich aufmerksam zu machen.
Ihre Stimme war leise geworden, als sie antwortete. »Wir haben uns geliebt. Ich weiß nicht, was passiert ist.«
»Und die Polizei hat bisher wirklich nichts unternommen?«
Thea schüttelte den Kopf. »Die Verleihfirma, die ›Tabu‹ im Sommer herausbringen will, hat ein wenig für Wirbel gesorgt. David
ist vertraglich verpflichtet, eine Reihe von Marketing-Aktivitäten für den Film zu absolvieren. Sie wissen schon, T V-Auftritte , Interviews und so weiter. Der Film war für deutsche Verhältnisse richtig teuer, er muss ein Erfolg werden, sonst überlebt
die Produktionsfirma das nicht. Als David die ersten Veranstaltungen verpasst hatte, hat die Produktion den Verleih unter
Druck gesetzt: Sie sollten aus der Not eine Tugend machen und Davids Verschwinden als Werbung vermarkten. Aber derTrick war zu billig, David hätte das nie gutgeheißen. Und keiner wollte auf den Zug aufspringen.«
Flo nickte. »Was wollen Sie jetzt tun?«
Thea zog die Füße auf das Sofa. »Jeden Tag treffen die Briefe der Banken hier ein, Rechnungen, Mahnungen, Aufforderungen.
Lange werde ich die Stellung nicht mehr halten können. Ich arbeite als Modedesignerin, verdiene damit genug Geld, um zu überleben.
Aber nicht genug, um ein Haus wie dieses hier zu bewirtschaften. Wenn der Gerichtsvollzieher kommt, muss ich gehen.«
Florian wandte sich wieder zum Fenster und blickte hinaus, während sie weitersprach. »David hat immer auf seiner Freiheit
bestanden. Es gibt so viel in seinem Leben, wovon ich keine Ahnung habe. Ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte, nach ihm
zu suchen. Er hat seine Freiheit verdient. Und vielleicht –«, Flo hörte, wie sie hinter ihm ausatmete, »vielleicht hat er ja alle an der Nase herumgeführt. Mich eingeschlossen.«
8
Der Vormittag schritt voran, während sich Florian weiter mit Thea unterhielt. Irgendwann war sie aufgestanden und hatte noch
einmal nach der Bediensteten geklingelt. Als Joanna erschien, bat Thea sie, ein wenig Brot, Käse und Wurst zu bringen.
Thea sah zu Florian. »Sie essen doch auch einen Happen, oder?«
Er lächelte. »Gern.«
Sein Blick fiel auf das große Schwarzweißfoto, das den Raum beherrschte und dem ansonsten lichtdurchfluteten Ambiente einen
düsteren Einschlag gab – als eröffnete sich in dem Bild so etwas wie der Eingang in eine Schattenwelt. Mit seinem schmalen
Aluminiumrahmen und dem dunkelblauen Passepartout musste das Foto beinahe fünf mal drei Meter groß sein. Die Aufnahme war
extrem vergrößert, sodass man auf den ersten Blick nichts Figürliches darauf erkennen konnte. Dennoch war Florian das Bild
bekannt vorgekommen, als er den Raum betreten hatte. Und als er jetzt noch einmal hinsah, fiel es ihm plötzlich wieder ein.
»Es ist aus ›Das Auge‹!« Er zeigte auf das Foto. »Aus dem ersten Film, den David gemacht hat!«
Theas Gesicht hellte sich auf. »Ach ja? Das hat mirDavid nie erzählt. Aber es ist ein Auge, das stimmt, das hat er mal erwähnt.«
Florian ging auf das Bild zu. »Ja, klar, es ist ein Auge, hundertfach vergrößert. Es ist Davids Auge.«
Er blieb vor dem Bild stehen. »Worauf es ihm ankam, war der Reflex auf der Netzhaut. Hier, sehen Sie?«
Er zeichnete mit der Hand einige Umrisse in den scharfkontrastigen Konturen des Bildes nach. »Das ist Hannes. Können Sie es
erkennen? Hannes Marin, der Kameramann. Es ist ein Standbild aus dem Film. Der Kameramann spiegelt sich im Auge von David!«
Florian trat einen Schritt zurück. »Wahnsinn. Zuerst denkt man, es sei eine Gewitterlandschaft oder so, stimmt’s?«
Thea nickte.
Er sah sie an. »Ich war dabei damals, Winter ’88. Wir waren noch ziemlich neu in Berlin, hatten uns zusammen eine Wohnung gesucht, in Kreuzberg. Da stand die Mauer noch. Kreuzberg
war sozusagen das Ende der westlichen Welt.«
Thea lächelte. »Ich war als Kind mal in Berlin, als die Mauer noch stand. Ich kann mich noch an die Grenzer erinnern, wie
die mich angesehen haben, bevor sie
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