Davids letzter Film
erzählt, er hatte es aber nie nachgeprüft.
Der Film spulte lautlos weiter. Als die Sequenz kam, in der David sich auf das Bündel stürzte, ging Florian auf »Pause« und
ließ den Film in Einzelbildschritten weiterlaufen.
Tatsächlich! Zwischen die Aufnahmen waren einzelne Schnipsel von drei, vier Bildern Länge geschnitten, die er bei der ersten
Sichtung in Normalgeschwindigkeit nicht bemerkt hatte.
Flo drückte die Pausetaste, eines der Bilder fror ein. Er beugte sich vor. Was war das?
Langsam erkannte er, was zuerst wie eine formlose Masse ausgesehen hatte. Es war Fleisch. Große Brocken blutigen Fleischs,
in dem tiefe Schnitte klafften. Flo spulte Bild für Bild weiter. Blut trat aus dem Fleisch hervor. Es war aus immer neuen
Winkeln aufgenommen, Kader für Kader ein Stückchen versetzt.
Florian ließ den Film weiterlaufen, fror ihn wieder ein. Die subliminal eingeschnittenen Sequenzen wurden immer kürzer, aber
auch der Abstand zwischen ihnen verringerte sich. Offensichtlich hatte David mit Farbfiltern experimentiert. Das Fleisch war
bald rot, bald blau, dann braun, schwarz, grün. Auch schien es zu zucken, ein Effekt, der durch das Versetzen der Bilder hervorgerufen
wurde.
Florian staunte, wie sorgfältig die kurzen Stücke gearbeitet waren. Nach und nach entfernte sich die Kamera von dem Fleisch,
und die anfangs noch makroskopischen Aufnahmen ließen das Umfeld erkennen, in dem es sich befand. David hatte nicht nur ein
paar Brocken Fleisch aus einem Supermarkt gefilmt, sondern direkt in einem Schlachthof! Es waren nichtAufnahmen einzelner
Fleischstücke– es waren die einer tiefen Fleisch
wunde
! Es waren Aufnahmen von der Schlachtung eines Ochsen!
Schlagartig wurde Flo klar, dass der subliminale Film, also die Sequenz, die sich aus den subliminalen Bildern ergab, sozusagen
rückwärts lief. Je weiter die DVD ans Ende spulte, desto mehr setzten sich die Fleischstücke wieder zu einem ganzen Tier zusammen.
Eine verstörende Entwicklung, die darin kulminierte, dass David die Augen des armen Viehs aufgenommen hatte, als ein Stromstoß
es exekutierte und sein Blick brach.
Florian betätigte die Stopptaste.
Die Kleider schienen an seinem Körper festzukleben. Er legte die Fernbedienung auf den Tisch, stand vom Sofa auf und ging
ins Bad. Sein Blick fiel in den Spiegel, und er erschrak. Seine Wangen waren eingefallen, seine Augen von harten Schatten
umlagert. Irritiert drehte er den Hahn am Waschbecken auf und spritzte sich ein wenig Wasser ins Gesicht. Als ihn das nicht
wirklich erfrischte, zerrte er sich seine Sachen vom Leib, drehte die Dusche voll auf und sprang unter den angenehm kühlenden
Wasserstrahl.
14
Eine Viertelstunde später kehrte er einigermaßen erholt und in ein Handtuch gehüllt ins Schlafzimmer zurück. Der Fernseher
zeigte noch immer das Hauptmenü der DVD. Florians Blick fiel auf die Unterkapitel, zwischen denen man wählen konnte: »Film starten«, »Audio Set up«, »Extra Features«.
Er klickte auf »Extra Features«. Es stand nur eine Option zur Verfügung: ein Interview mit dem Regisseur.
Ein Interview mit David?! Flo aktivierte das dazugehörige Symbol. Unmittelbar darauf erschien David im Bild. Er saß auf einem
alten Ledersessel mitten in einem Park. Der Himmel war blau, die Sonne schien, und hinter dem Sessel wogte ein Meer aus Blüten
und Knospen. Verglichen mit seinem Auftritt im »Auge« wirkte er allerdings um Jahre gealtert. Offenbar war das Interview vor
nicht allzu langer Zeit für das DV D-Release aufgenommen worden.
Florian stoppte die Wiedergabe, zog das Handtuch enger um seinen Körper und packte die Sandwiches aus. Wenn er nicht bald
etwas aß, würde er noch umkippen. Hungrig biss er in eins der Brote. Es war frisch und gut. Er ließ die DVD weiterlaufen.
David sprach den Zuschauer direkt an. Zunächst redete er davon, dass er – wie viele andere Filmemacher auch – sein ganzes
Leben in den Dienst seiner Arbeit gestellt habe. Trotz vieler Enttäuschungen und Rückschläge, die wohl unvermeidlich seien,
habe er an seinem Wunsch, Filme zu machen, immer festgehalten. Dabei habe ihn vor allem eines motiviert: dass die Filme, die
produziert und zu Hunderten Jahr für Jahr auf den Markt oder in die Sender kämen, nur ein Bruchteil dessen abdeckten, was
mit den Mitteln des Films tatsächlich möglich sei.
Typisch David, immer gleich programmatisch werden, musste Flo denken und biss in sein
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