Davids letzter Film
Sandwich.
»Film ist ein viel mächtigeres Instrument, als wir bisher ahnen!« David sah in die Kamera.
Mächtiger als wir ahnen? Wieso das denn?, grübelte Flo, während er kaute. Aber er musste zugeben, dass es David immer wieder
gelang, ihn neugierig zu machen.
»Diese Ahnungslosigkeit kommt nicht von ungefähr«, fuhr David fort. »Ich würde sogar sagen, sie ist beabsichtigt. Mit einem
Wort: Es gibt eine Art
Zensur
.« Er hob abwehrend die Hand. »Moment, lassen Sie mich das kurz erklären! Die Filme, die wir tagtäglich sehen, befinden sich
alle sozusagen in dem gleichen winzigen Ausschnitt der großen Menge der
möglichen
Filme. Deswegen kommen uns – wenn man es sich einmal richtig überlegt – diese
realisierten
Filme auch alle mehr oder weniger gleich vor. Jahr für Jahr werden Hunderte, Tausende, Zehntausende solcher Filme in aller
Welt produziert, und sie alle – oder die meisten von ihnen – bedienen die immer gleichen Schemata. Von variieren kann schon
gar keine Rede mehr sein.«
David ließ sich in seinen Ledersessel zurücksinken. »Wollen wir das wirklich sehen? Nein! Oder? Ich glaube nicht! Niemand
will zum tausendsten Mal das sehen, was er bereits bis zum Überdruss kennt. Warum also wird es uns immer wieder vorgesetzt?
Weil man mit filmischen Mitteln gar nichts anderes machen kann? Noch mal nein! Das behauptet auch niemand! Vielmehr wird gesagt,
dass andere Filme keinen
Erfolg
haben und deswegen nicht gemacht werden. Aha! Also ein sauberes marktwirtschaftliches Argument. Wir leben in einem freien
Markt, und da kommt nur das auf den Tisch, was nachgefragt wird. Alles klar!«
An dieser Stelle wurde das Interview abrupt von dem schockierenden Bild eines Mannes unterbrochen, der auf seine Arme starrte,
von denen die Hände abgeschlagen waren.
Flo zuckte zusammen. Aber es war nur ein kurzer Flash. Danach tauchte David in seinem Park wieder auf.
»Haben Sie das gesehen? Nicht den Mann ohne Hände, das Bild
danach
?! Den Bergbach! Spulen Sie zurück und sehen Sie es sich an!« Er grinste.
Florian stoppte und spulte zurück. Tatsächlich. Nach dem Schockbild von dem Mann ohne Hände waren im Einzelbildlauf fünf Bilder
eines idyllischen Bergbachs zu sehen.
Flo ließ die DVD weiterlaufen.
»Das waren nur fünf Bilder«, fuhr David fort. »Aber normalerweise nimmt man die wahr.« Kurz blitzte der Bergbach auf. »Sehen
Sie?
Diesmal
haben Sie den Bach gesehen, oder?« David lächelte. »Beim ersten Mal haben Sie den Bach nur deshalb nicht gesehen, weil der
bemitleidenswerteHerr ohne Hände davorgeschnitten war. Beide Male war der Bach fünf Bilder lang zu sehen. Aber wahrgenommen haben Sie ihn nur
beim zweiten Mal. Und warum? Weil Sie nach einem schockierenden Bild eine Fünftelsekunde lang blind sind. Wussten Sie das?
Der Anblick des Mannes ohne Hände hat sie eine Fünftelsekunde lang glatt geblendet! Etwas ganz Ähnliches passiert übrigens
nach einem erotischen Bild.«
Er grinste. »Hopp!«
Nichts passierte.
David lachte. »Aber das sparen wir uns für ein andermal auf. Worum es mir heute geht, ist Folgendes: Wir haben noch nicht
im Entferntesten ausgelotet, wie der Mensch durch sorgfältig eingerichtete Bilderfolgen
manipuliert
werden kann. Man kann zum Beispiel Entsetzen stiften, wie im Horrorfilm. Tatsächlich ist vielleicht kein anderes Genre in
den letzten Jahren so erfolgreich weiterentwickelt worden wie der Horrorfilm. Vielleicht noch der Pornofilm. Alle anderen
Genres waren schon vor dreißig, vierzig Jahren auf dem Stand, auf dem sie heute noch sind. Thriller. Western. Melodram. Science-Fiction.
Kriegsfilm. Da hat sich nicht viel getan. Aber Horror? ’73 schockierte Tobe Hooper mit seinem ›Chainsaw Massacre‹ – aber was
war das schon, verglichen mit heutigen japanischen Kultschockern, wie zum Beispiel der ›Guinea Pig‹-Reihe?«
Er machte eine Pause.
»Zu schocken ist im Grunde genommen aber nicht besonders interessant. Es ist ein kurzer Moment, von dem wir im Nachhinein
eigentlich nichts haben außer dem Gefühl, uns irgendwie besudelt zu haben. Wichtiger erscheint mir deshalb etwas anderes.
Dass wir das Bergbachbildnach dem Schockbild nicht sehen, zeigt, dass unser Hirn wie eine Maschine, also
automatisch
, auf bestimmte Reize reagiert – ob wir wollen oder nicht. Die spannende Frage ist nun, ob wir es auch auf nachhaltigere Weise
beeinflussen können. Indem wir zum Beispiel bestimmte Gedanken, Empfindungen und
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