Davina
sie sah dünner und blasser aus, mit dunklen Schatten unter den Augen. Sie trug ein hübsches, geblümtes Baumwollkleid und elegante, hochhackige Sandalen. Solche Garderobe war für die hohen Funktionäre reserviert, die Zugang zum dritten Stock im Kaufhaus ›Gum‹ besaßen. Seit dem Verschwinden ihres Vaters hatte sie nichts Neues mehr angehabt. Er bemühte sich, einen klaren Kopf zu behalten und seine Angst zu unterdrücken, daß sie ihn verraten haben könnte. Der Wagen des KGB hatte sie mehrmals abgeholt. Einmal hatte jemand Wolkow im Fond des Autos erkannt, als die Tür geöffnet wurde und sie einstieg.
»Wenn sie nichts sagt, müssen wir irgend etwas unternehmen.« Ihm fielen die Worte des Engländers ein, als er Irina ansah.
Sie setzte die Teetasse ab und sagte: »Warum sehen Sie mich so an? Ist irgend etwas passiert?«
Er sagte, was ihm gerade einfiel, und es war zufällig die Wahrheit.
»Ich dachte gerade darüber nach, wie hübsch Sie sind«, sagte er. »Aber Sie sehen nicht ganz gesund aus.«
Ihr bisher blasses Gesicht wurde plötzlich von tiefer Röte überzogen.
»Ich bin froh«, sagte sie still. Sie hob ihre leere Teetasse und setzte sie wieder ab. »Ich bin froh, daß Sie mich für hübsch halten. Aber Sie haben recht – ich fühle mich nicht ganz wohl.«
Er schenkte ihr den Tee ein. Sie wird es mir erzählen, dachte er bei sich. Wenn sie gelogen hätte und eine Verräterin wäre, würde sie nicht so erröten … oder mich auf diese Weise ansehen.
»Was ist denn los?« fragte er.
Es standen keine Tränen in ihren Augen. Aber er sah eine schreckliche Leere in ihnen, als ob es für sie nichts mehr zu leiden gäbe.
»Man hat meine Mutter ins Lager von Kolyma verschickt.«
Er ergriff ihre Hand. »Ach, meine arme Irina – das ist ja schrecklich!«
»Sie wird nie mehr zurückkommen«, sagte sie. »Es ist das schlimmste Lager auf der ganzen Welt. Von dort kehrt niemand zurück.«
»Wie haben Sie das erfahren?«
Sie klammerte sich an seine Hand. »Antoni Wolkow hat es mir gesagt. Ich habe mit ihm geschlafen; ich dachte, ich könnte meiner Mutter damit helfen.«
Poliakow war ein gefühlvoller Mann. Irina sah den Ausdruck auf seinem Gesicht, und ihr Herz schlug wild. Oft, wenn sie mit Wolkow im Bett lag, versuchte sie sich vorzustellen, daß es Poliakow war, der sie in den Armen hielt. Aber diese Phantasien dauerten nicht lange, denn der junge Dozent hätte ihr nie weh getan, und Wolkow genoß es, anderen Schmerzen zuzufügen.
»Verachten Sie mich jetzt, Genosse?«
»Nein«, sagte er bestimmt. »Nein. Sie haben es für Ihre Mutter getan. Das ist keine Schande. Er ist schandbar – er ist der Abschaum der Menschheit!«
»Ich durfte meine Mutter sehen«, fuhr sie fort. »Es ging ihr nicht schlecht, sie war abgemagert, aber sonst hatten sie ihr nichts angetan. Ich glaubte wirklich, man würde sie nach einem milden Urteil wieder nach Hause schicken. Aber sie wußte es … Sie flüsterte mir zu: ›Ich werde nie wieder zurückkommen.‹ Das waren ihre Worte. Aber ich habe ihr nicht geglaubt. Wolkow hatte angedeutet, er könne sie nach einigen Monaten in einem Besserungslager wieder herausholen. Dann kam er an jenem Abend zu mir und sagte, sie werde am nächsten Tag nach Kolyma verschickt. Und eines will ich Ihnen sagen: Es machte ihm Spaß. Ich weinte, ich verlor die Fassung, ich kniete vor ihm nieder und bat für meine Mutter, und er weidete sich an meiner Verzweiflung. Er wollte in diesem Zustand mit mir ins Bett gehen. Und danach, als er kurz geschlafen hatte, sagte er mir, ich solle Kaffee machen und ihm etwas zu essen bringen. Ich habe es getan, Genosse Poliakow. Ich war wie ein Hund, den man geschlagen hatte. Ich gab ihm das Essen und fragte mich selbst, warum ich nicht das Brotmesser nahm und es ihm in den Rücken stieß.«
»Gott sei Dank haben Sie es nicht getan«, sagte der Dozent.
»Gott sei Dank.«
»Dann fing er an, über meinen Vater zu reden«, fuhr Irina fort. »Daß er vor seiner Reise nach England so krank gewesen sei. Und dabei sah er mich die ganze Zeit an. Dann sagte er: ›Weißt du, ich glaube gar nicht, daß er tot ist.‹ Ich habe nichts geantwortet. Ich war zu verletzt und benebelt, um irgend etwas zu sagen. Er wiederholte: ›Ich glaube, er ist im Westen. Wenn du ihn zur Rückkehr bewegen könntest, kann ich dir versprechen, daß deine Mutter sofort freigelassen wird.‹ Er weiß, daß ich Verbindung zu meinem Vater habe«, sagte sie langsam, »und er bot mir
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