Davina
ein Tauschgeschäft an: ›Hol ihn zurück, und deine Mutter ist frei.‹ Er hatte sie nach Kolyma geschickt.«
Der Dozent senkte den Kopf und stöhnte leise vor sich hin.
»Dann sind wir alle verloren«, sagte er. »Er wartet nur darauf, mich und dann die anderen festzunehmen. Wie hat er es erfahren? Haben Sie es ihm gesagt? War es so?« Seine Stimme klang eindringlich.
Sie sah ihm fest in die Augen. »Nein«, sagte sie. »Ich habe ihm nichts gesagt. Er weiß, daß mein Vater lebt und sich im Westen aufhält. Er weiß, daß wir Nachricht von ihm bekommen haben, aber das ist auch alles. Meine Mutter hat ihm aus Rücksicht auf mich nichts gesagt. Aber die Art, wie er sagte: ›Wenn du ihn zur Rückkehr bewegen könntest …‹ Irgend jemand muß es ihm gesagt haben.«
»Was haben Sie ihm erzählt?« Poliakow war nicht überzeugt. Er war bleich geworden, und seine Hand zitterte. Er murmelte vor sich hin: »Mein Gott, vielleicht warten sie draußen schon auf uns.«
Das Mädchen blieb ruhiger als er.
»Ich sagte, ich würde es tun«, fuhr sie fort. »Ich bat ihn, mir zu sagen, was ich tun solle, wie ich ihm eine Nachricht zukommen lassen könnte. Er lächelte nur und gab keine Antwort. Ich wiederholte meine Frage, weil ich glaubte, er wollte, daß ich ihn inständig anbettelte. Dann sagte er: ›Du wirst die Gelegenheit bekommen. Ich werde dir Bescheid sagen, wenn es soweit ist.‹ Dann ließ er mich in der Wohnung allein … Was soll ich nur tun? Ich habe Angst, mich weiterhin mit Ihnen zu treffen; er wird mich beschatten lassen.«
»Ja, ganz sicher«, sagte der Dozent. »Und bei den anderen Studenten gehen Gerüchte um – erst über mich und jetzt über den Wagen, der Sie immer abholt. Es wird zuviel geredet, Irina … Hören Sie zu: ich lege in zwei Tagen nach der Vorlesung einen Zettel in Ihr Aufsatzheft. Er wird Ihnen sagen, wo Sie mich finden können.«
»Haben Sie Neuigkeiten von meinem Vater?«
Sie sah ihn so angsterfüllt und erwartungsvoll an, daß er sich gerade noch zurückhalten konnte, ihr von der neuen Kontaktperson in der britischen Botschaft zu erzählen. Aber in allen diktatorisch regierten Staaten führt blindes Vertrauen ins Unglück. Er schüttelte den Kopf.
»Nichts«, sagte er. »Aber wir werden bald etwas erfahren. Haben Sie Geduld.« Er drückte wieder ihre Hand. »Seien Sie sehr vorsichtig.«
»Ja«, sagte sie. »Wolkow wird mir nichts antun. Er will mich benutzen, um meinen Vater zu vernichten. Im Augenblick befinde ich mich noch in Sicherheit. Aber Sie müssen aufpassen, Genosse!«
Er nickte. »Ich gehe zuerst«, sagte er. »Es gibt einen rückwärtigen Ausgang durch den Waschraum. Ich werde ihn benutzen. Können Sie die Rechnung bezahlen?«
»Er gibt mir Geld«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich kann zahlen.« Er nickte ihr noch einmal zu und verschwand dann in Richtung auf die Toilette im hinteren Teil des Raums. Die Hintertür ging auf eine enge Gasse hinaus. Er blieb im Türrahmen stehen und sah sich um, aber es war niemand in Sicht. Er entfernte sich von dem Treffpunkt, so schnell er konnte.
Wolkow wußte Bescheid … Aber wieviel wußte er? Wenn ihm Sasonows Nachricht an seine Familie bekannt war, mußte er auch den Kanal kennen, über den diese Nachricht weitergegeben worden war. Kalter Angstschweiß brach ihm aus. Warum hatte er nicht gehandelt? Warum spielte er das grausame Spiel mit Irina und ihrer Mutter weiter, wenn es nicht ehrlich gemeint war und wenn er tatsächlich beabsichtigte, den Überläufer zur Rückkehr zu erpressen. Poliakow lief kopfschüttelnd weiter und murmelte so allerlei vor sich hin. Es war alles zu schwierig und zu kompliziert, als daß er die Wahrheit hätte erkennen können. Er war ein liberaler Intellektueller. Nur das Gehirn eines Spions konnte die finsteren Motive eines anderen Spions entwirren. Er ging in die Buchhandlung am Roten Platz und steckte einen Busfahrschein in den russischen Gedichtband – das Signal für das Treffen mit Spencer-Barr am nächsten Tag.
Sasonow war allein. Kidson hatte ihm Zigaretten, Wodka und die kleine Mahlzeit gebracht, die er sich an Stelle des eigentlichen Abendessens gewünscht hatte. Dann ließ er den Russen mit den fotokopierten Akten, die von London gekommen waren, allein. Sasonow hatte sie schon einmal durchgelesen, um sich einen Überblick über den Inhalt zu verschaffen. Jetzt las er die Berichte Seite für Seite noch einmal durch und machte sich Notizen, während der Zigarettenrauch wie eine
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