Davina
ihm, und als dieser ihm den Weg versperrte, glaubte Poliakow, er bekäme einen Herzanfall. Aber der Mann fragte nur, wo die französischen Lehrbücher stünden. Der Dozent sagte, er wisse es nicht, und eilte zum Ausgang. Erst nach einiger Zeit blieb er stehen, zitternd und noch immer außer Atem.
Zurück in der Botschaft, ging Spencer-Barr sofort in den Chiffrierraum des Hauptgebäudes an der Nabereschnaja Morisa Toresa. Der Leiter der Chiffrierabteilung war der einzige, der neben dem Botschafter und dem Leiter der Wirtschaftsabteilung von Jeremys wirklicher Funktion wußte. Jeremy setzte sich und verfasste ein langes Fernschreiben an den Brigadier in London, das der Beamte verschlüsselte und sofort durchgab. Dann ging er hinauf zu seinem Schreibtisch. An diesem Abend fand ein Empfang in der indischen Botschaft statt; er freute sich darauf. Er genoß die gesellschaftliche Seite des diplomatischen Lebens, weil sie ihm allerlei Informationen einbrachte, die eines Tages einmal nützlich sein konnten. Er hatte bereits ein freundschaftliches Verhältnis zu anderen Diplomaten und deren Frauen hergestellt. Er gab sich stets charmant und liebenswürdig den Frauen gegenüber und den Männern gegenüber sehr höflich. Und er stellte sich gewöhnlich in der Nähe der Russen auf. Niemand hatte eine Ahnung, daß er fließend Russisch sprach.
Das Sommerschloß des Zaren in Livadia war in ein Sanatorium verwandelt worden. Speziell Herzerkrankungen wurden hier behandelt. Der prächtige Große Palast war Schauplatz der Konferenz von Jalta gewesen und diente als Kunstgalerie zeitgenössischer sowjetischer Maler und Bildhauer.
Davina schlug vor, sie sollten sich die Kunstgalerie einmal ansehen. Harrington war einverstanden, zeigte aber keine besondere Begeisterung.
»Ich bin nicht wild auf Sehenswürdigkeiten«, sagte er. »Und wenn ich ein einziges Museum gesehen habe, das den kulturellen Errungenschaften der großen sowjetischen sozialistischen Revolution gewidmet ist, bin ich auf Lebzeiten bedient. Aber wir werden hingehen, wenn du es dir gerne ansehen möchtest.«
»Die Architektur ist großartig«, sagte sie. »Und wir brauchen uns drinnen nicht lange aufzuhalten. Ich möchte vor allem die Gärten sehen.«
Die Fassade des Palastes war atemberaubend schön. Sie bot sich schneeweiß in der heißen Sonne dar und war von herrlichen Pinien und prächtigen Gartenanlagen eingerahmt. Sie gingen in das der Jalta-Konferenz gewidmete Museum und sahen sich die Ausstellungsstücke an. Für die Kunstgalerie empfanden sie keine nennenswerte Begeisterung.
»Schön, jetzt haben wir wenigstens gesehen, wo der Westen den Krieg nach dem Sieg über die Deutschen verloren hat«, sagte Davina. »Ich würde gern wissen, wie viele Millionen infolge der hier getroffenen Entscheidungen gestorben sind oder versklavt wurden.«
Harrington sagte: »Es gibt ebenso wenig ein faires Abkommen wie einen gerechten Krieg … Komm, lass uns hinausgehen – du wolltest doch die Gärten sehen.«
»Allerdings«, erwiderte sie. »Ich finde es hier bedrückend. Überall hämmern sie einem ihre Ansichten ein. Alle diese Superlative – Der Große Vaterländische Krieg – der Glorreiche Revolutionäre Kampf … und ich dachte, alle Paläste wären bei der Revolution geplündert und niedergerissen worden.«
»Einige schon«, meinte Harrington. »Aber die Sommerpaläste blieben vor dem Mob verschont. Sie zeigen Livadia gern den Touristen, weil sie darauf hinweisen können, wie die Fürsten im Überfluss lebten, während das Volk hungerte. Daraus läßt sich gute Propaganda machen. Sie haben alle Juwelen und die Faberge-Schätze im Kreml aufbewahrt. Eines würde ich gern sehen: das kleine pornographische Zimmer der guten alten Großen Katharina. Aber das wird der Öffentlichkeit nicht gezeigt.«
»Komm mit«, sagte sie, »lass uns herumwandern. Die Gartenanlagen sind herrlich, findest du nicht? Sieh dir die Palmenallee an und dort drüben die Freitreppe, die zur Terrasse hinaufführt. Hast du das Buch über Nikolaus und Alexandra gelesen?«
»Ich dachte mir schon, daß es dir jetzt einfallen würde«, sagte er. »Wenn man hier herumgeht und sieht, wo sie gelebt haben, kann man sie sich leibhaftig vorstellen. Sie war verrückt nach Lila – ein Symptom für einen depressiven Charakter.«
»Ich frage mich oft, ob der Zar am Leben geblieben wäre, wenn er eine andere Frau geheiratet hätte«, sagte sie. »Irgendwie tut sie einem leid, aber sie hat ihn
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