Davina
Persönlichkeit. Wenn man sein Wesen gewissermaßen dreidimensional vor sich sehen konnte, fiel einem die Aufgabe, ihn zu gewinnen, irgendwie leichter.
Sie summte beim Fahren eine kleine Melodie vor sich hin. Es war ein wunderschöner Frühlingstag; sie war zuversichtlich und heiter. Es war ein Gefühl, das für sie untrennbar mit der Fahrt nach Marchwood verbunden war – der Fahrt zu dem Haus, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Wie früher, wenn sie zu Ferienbeginn nach Hause kam, klopfte auch jetzt ihr Herz schneller, als sie die Autobahnausfahrt erreichten und ein Schild mit der Aufschrift ›Marchwood 5 km‹. Sie hatte bis jetzt niemandem erzählt, wie sie zu diesem Haus stand. Es schien ihr auch wenig Sinn zu haben, denn zuerst sollte es ihr Bruder erben, und als dieser starb, war sie sicher, daß ihr Vater es Charley vermacht hatte. Ihre Schwester hatte natürlich keinen Hehl aus ihrer Liebe zu dem Haus gemacht. Sie hatte nie die Mauern gestreichelt und mit ihnen geredet, als wären sie ein lebendes Wesen. Was Charley empfand, wußten immer alle. Nicht daß es ihr jetzt noch etwas ausgemacht hätte, dachte Davina, und sie merkte gar nicht, daß sie aufgehört hatte, vor sich hin zu summen. Was sollte eine allein stehende Frau mit einem so großen Haus anfangen – und Charley würde sicher wieder heiraten. Sie konnte ihre Familie jetzt mit Zuneigung, Verständnis und Objektivität betrachten. Sie führte ihr eigenes Leben und brauchte sie nicht mehr. Und weil sie sie nicht mehr brauchte, freute sie sich auf das Wiedersehen und war entschlossen, aus dem Wochenende das Beste zu machen. Sie wollte, daß dieser Mann aus seiner Reserve heraustrat und sich wohl fühlte. Er sollte in ihr nicht länger eine Gegnerin sehen.
»Wir sind gleich da«, verriet sie. »Ich glaube, Sie werden meine Eltern mögen. Meine Schwester wird auch da sein.«
»Ich darf nicht vergessen, mich wie ein Pole zu benehmen«, sagte er.
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sprach sie, »bleiben Sie ganz natürlich. Ich habe ihnen gesagt, Sie seien Handelsattache in der Botschaft. Wir haben uns im Januar auf einer Party kennen gelernt – denken Sie daran. Sie werden keine Fragen stellen, meine Familie ist nicht neugierig.«
»Haben Sie denn nichts gegen Kommunisten?« fragte er.
»Sie betrachten die Polen nicht als Kommunisten.« Sie lächelte schwach. »Nicht, seit wir einen polnischen Papst haben. Das hat die Polen aufgewertet.«
»Wie ist denn Ihre Schwester – Sie haben noch nie von ihr gesprochen.«
»Meine Schwester – ja, Sie werden sich selbst Ihr Bild machen … Wir sind schon da, dort ist die Einfahrt.«
Sie merkte gar nicht, wie sehr ihr die Vorfreude anzumerken war, als sie in den schmalen Weg einbogen. Es duftete frisch nach Laub und wildwachsenden Blumen, und in der Luft lag eine Erwartung, die für sie eng mit dem Frühling und dem Kreislauf der Natur zusammenhing. Sie fuhren durch ein kleines Tor, das in die Mauer eingelassen war. Zu beiden Seiten der engen Einfahrt blühten auf den Rasenstreifen gelbe Osterglocken. Sasonow mußte plötzlich an die Krim denken, wo die Frühlingsblumen einen großen Farbteppich bildeten. Sie gelangten an eine leichte Kurve und kamen zur Vorderfront des Hauses. Es war wunderschön und stammte aus der Zeit von Queen Anne; das Mauerwerk schimmerte rosa im Sonnenschein. Eine tiefgrüne Magnolie wand sich an der einen Mauer empor; ihre Blätter sahen wie glänzende, kleine Speere aus, während sich die dicken Blütenknospen vorläufig noch darunter versteckten. Eine Wetterfahne auf den aus dem 18. Jahrhundert stammenden Stallungen drehte sich im sanften Wind.
Davina schaute in den Rückspiegel und rief: »Mein Gott, wie sehen denn meine Haare aus! Völlig durcheinander …« Sie fand einen Kamm in ihrer Handtasche und frisierte die Haare aus der Stirn zurück.
Sasonow wollte gerade sagen, daß ihr eine gelöste Frisur besser stehe. Ihre Haarfarbe war zwischen Braun und Dunkelrot, und die strenge, aus der Stirn nach hinten gekämmte Frisur ließ sie älter aussehen.
»So«, sagte sie, »jetzt ist es schon besser.«
Er sagte nichts.
»Sie müssen hinter dem Haus sein – der Hund meiner Mutter stürzt sonst immer heraus, wenn er ein Auto hört.«
Er nahm ihre beiden Reisetaschen aus dem Kofferraum, während Davina ausstieg und die Eingangstür aufmachte.
»Stellen Sie sie in der Halle ab«, bat sie. »Wir gehen gleich durch in den Garten.«
»Ich habe ein
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