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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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erzählt, »dass nunmehr auch die Flieger nach Würzburg kämen, da vor kurzer Zeit der letzte Jude Würzburg verlassen habe. Dieser habe vor seinem Abtransport erklärt, dass nun auch Würzburg Luftangriffe bekommen werde.« 82 »Ausgesprochene Judenstädte« wie Fürth und Frankfurt, so hieß es ebenfalls aus Würzburg, würden verschont. 83 Auch in Heilbronn verbreitete sich 1944, nach dem Angriff eines einzelnen Bombers, das Gerücht, ein feindlicher Flieger habe für die Vertreibung der Juden gezielt Rache nehmen wollen. 84
    Der Hamburger Kaufmann Lothar de La Camp schrieb unter dem Eindruck der Bombardierung Hamburgs im Sommer 1943 an einen Bekannten, dass »das einfache Volk, der Mittelstand und die übrigen Kreise von sich aus wiederholt Äußerungen unter vier Augen und selbst auch im größeren Kreise machten, die die Angriffe als Vergeltung gegen die Behandlung der Juden durch uns bezeichnen«. 85 Ian Kershaw schließlich hat auf einen vor dem Sondergericht München verhandelten »Heimtückefall« hingewiesen, in dem ein Hilfsarbeiter aus Weißenburg Befürchtungen äußerte, seine Stadt werde wegen der Inhaftierung von Juden in besonderer Weise unter den Bombardements zu leiden haben. 86 Alle diese Berichte spiegeln die Ohnmacht der Betroffenen wider, nicht die vom Regime gewünschte Mobilisierung der letzten Widerstandsreserven.
    Auffällig an diesen erhaltenen Äußerungen ist, dass die Judenverfolgung nicht aus moralischen Gründen verurteilt wird. In der Kritik stehen vielmehr stets die eigenen Interessen, wie die Furcht vor Luftangriffen oder der Schutz der eigenen Kriegsgefangenen, im Vordergrund. Daraus weitreichende Schlussfolgerungen über die angeblich selbstsüchtige und moralisch indifferente Einstellung der deutschen Bevölkerungsmehrheit zu ziehen, wie dies etwa Kulka ausgehend von einer recht breiten Analyse des Materials aus dem Jahre 1943 tut, halte ich gleichwohl für problematisch: Wiederum muss der quellenkritische Einwand in Betracht gezogen werden, dass sich Kritiker der Judenverfolgung in halböffentlichen Situationen bevorzugt in einer Weise äußerten, die ihnen nicht als Fundamentalopposition ausgelegt werden konnte. 87
    Es erscheint auch fraglich, ob der in der Bevölkerung häufiger hergestellte Zusammenhang zwischen der Judenverfolgung und der Furcht vor »jüdischer Vergeltung« wirklich darauf zurückzuführen ist, dass die Propagandathese von der »jüdischen Weltverschwörung« mittlerweile in der Bevölkerung allgemein akzeptiert wurde, wie beispielsweise Kershaw schreibt. 88 Man könnte ebenso argumentieren, dass in solchen Bemerkungen Kritik an der Judenverfolgung zum Ausdruck gebracht wurde: Die Behauptung der Propaganda, eine Niederlage hätte die Vernichtung Deutschlands durch »die Juden« zur Folge, wurde hier in einer Weise aufgegriffen, die als deutliche Schuldzuweisung in Richtung Regime verstanden werden konnte. Wer sich so äußerte, bewies damit (bewusst oder unbewusst), dass das Regime Opfer der von ihm selbst hergestellten perversen Logik geworden war.
    Das von der Propaganda verbreitete Gespenst einer »jüdischen Vergeltung«, sei es nun in Gestalt von Massenexekutionen durch bolschewistische Schergen oder durch Luftangriffe, erwies sich demnach als ein durchaus zweischneidiges Schwert. Statt zu Durchhaltewillen und Aufbietung der letzten Kräfte führte die antijüdische Propagandakampagne des Frühjahrs 1943 bei vielen offenbar zu Resignation, während andere die Judenverfolgung als verhängnisvollen Irrtum kritisierten und die Propaganda als unglaubwürdig und verlogen empfanden. Die Stimmungsberichte der Reichspropagandaämter, musste Goebbels Ende Mai 1943 feststellen, zeichneten das Bild einer »allgemeinen schweren Depression«; man könne nicht mehr »nur von einem Stimmungs-, sondern auch von einem Haltungseinbruch« sprechen. 89
    Ob die Berichte nun die tatsächliche Stimmungslage der Bevölkerung wiedergaben und inwieweit sie auch als Kritik lokaler und regionaler Dienststellen am Kurs des Propagandaministeriums zu verstehen sind, muss dahingestellt bleiben. In jedem Fall war aber die hier übereinstimmend zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber der offiziellen Propaganda so stark, dass das Propagandaministerium sich Ende Mai/Anfang Juni gezwungen sah, die Kampagne zurückzunehmen: Entsprechend ebbte die antisemitische Polemik in der deutschen Presse Anfang Juni ab. 90
    Der Versuch des Regimes, die deutsche »Öffentlichkeit« durch eine

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