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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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antijüdische Angstpropaganda neu auszurichten und auf die Parole »Sieg oder Tod« festzulegen, war fehlgeschlagen. Das unter dem Stichwort »Katyn« im April eingeführte und im Mai mit Hilfe des Themas Luftkrieg variierte antisemitische Leitmotiv hatte sich nicht als tragfähiges Konzept erwiesen. Goebbels sah sich sogar gefordert, seine antisemitische Propagandakampagne gegen Kritik aus der Partei zu verteidigen. In einem an die Gauleiter gerichteten Rundschreiben vom 12. Juni 1943 schrieb er unter anderem, es hätten nach Beendigung der »Katyn-Aktion […] verschiedene Gaue auf das Unverständnis parteifremder Kreise für die Breite und Häufigkeit der Darstellung in Presse und Rundfunk hingewiesen«. Es sei hingegen »ein schon in der Kampfzeit erprobter Grundsatz, dass die Wirkung der Propaganda von der häufigen Wiedergabe des Themas – selbstverständlich in abgewandelter Form – abhängt«. Nur so sei die »Einprägung bei weitesten Kreisen gewährleistet«. Und: »Im Vordergrund der Propaganda steht der Kampf gegen das Judentum und den Bolschewismus. Er muss auf breiteste Basis gestellt werden.« 91
    Es ist kein Zufall, dass auch die Partei-Kanzlei der NSDAP sich zu diesem Zeitpunkt, im Juli 1943, veranlasst sah, ein geheimes Rundschreiben an die Gau- und Reichsleiter herauszugeben, das deutlich das Unbehagen der Parteiführung über wild wuchernde Gerüchte in der »Judenfrage« zum Ausdruck brachte. Hier hieß es, und zwar ausdrücklich im »Auftrag des Führers«: »Bei der öffentlichen Behandlung der Judenfrage muss jede Erörterung einer künftigen Gesamtlösung unterbleiben. Es kann jedoch davon gesprochen werden, dass die Juden geschlossen zu zweckentsprechendem Arbeitseinsatz herangezogen werden.« 92
    Der defensive Ton dieser Anweisung ist umso auffallender, wenn man sich Bormanns Schreiben in der gleichen Angelegenheit vom Oktober 1942 an die Gau- und Kreisleiter in Erinnerung ruft. Damals war die Partei-Kanzlei auf die Gerüchte über Massenerschießungen im Osten eingegangen und hatte eine Sprachregelung herausgegeben, die diese »sehr scharfen Maßnahmen« nicht geleugnet und offen davon gesprochen hatte, die europäischen Juden würden in Lager deportiert, dort zur Arbeit eingesetzt oder »noch weiter nach dem Osten verbracht« werden. Der Passus, es liege in der »Natur der Sache, dass diese teilweise schwierigen Probleme im Interesse der endgültigen Sicherung unseres Volkes nur mit rücksichtloser Härte gelöst werden können«, machte den Parteifunktionären unmissverständlich deutlich, dass die umlaufenden Gerüchte über den Massenmord an den Juden keinesfalls aus der Luft gegriffen waren. 93 Und nun, im Juni 1943, sollte die künftige »Gesamtlösung« der »Judenfrage« über den »Arbeitseinsatz« hinaus überhaupt nicht mehr erörtert werden. Zu diesem Verbot passte, dass die öffentlichen Erklärungen und Andeutungen führender Nationalsozialisten über die in Gang gekommene »Vernichtung« oder »Ausrottung« der Juden – im Gegensatz zum Jahre 1942 – weitgehend verstummt waren: Zum letzten Mal hatte Hitler im Februar 1943 die schon zum Ritual gewordene Erinnerung an seine »Prophezeiung« wiederholt.
    Goebbels sah sich sogar genötigt, das offizielle Schweigen über die zur Verwirklichung der »Endlösung« ergriffenen Maßnahmen zumindest ansatzweise öffentlich zu begründen. So lassen sich jedenfalls seine richtungweisenden »30 Kriegsartikel für das deutsche Volk« interpretieren, die er am 26. September 1943 in der Wochenzeitung Das Reich veröffentlichte. Plötzlich wurde das »Schweigen« generell zu einer Tugend erklärt. Liest man diesen Artikel vor dem Hintergrund der wenige Monate zuvor abgebrochenen antisemitischen Kampagne, wird deutlich, dass Goebbels’ Mahnung, das offizielle Schweigen nicht durch Gerüchtebildung zu durchbrechen, sich insbesondere auf die »Judenfrage« bezog – die indes angesichts des Schweigegebots nicht beim Namen genannt wurde. »Schweigen ist ein hohes Gebot der Kriegführung«, heißt es im Artikel. »Nur wenige wissen um die Geheimnisse des Krieges. Diese stellen Waffen im Lebenskampfe unseres Volkes dar und dürfen deshalb unter keinen Umständen vor dem Feinde preisgegeben werden. Es ist also denkbar unfair und abträglich für das allgemeine Wohl, die Regierung durch Verbreitung von Gerüchten dazu zwingen zu wollen, über eine kriegswichtige oder gar kriegsentscheidende Frage öffentliche Erklärungen abzugeben, die dem

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