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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Beispiels besonders plastisch nachzeichnen.
    Bereits im März 1943 hatte Walter Tießler, der Verbindungsmann Bormanns bei Goebbels, den Propagandaminister darauf aufmerksam gemacht, dass in der »Kampfzeit »eine Beschimpfung der Partei bei uns ebenfalls nicht mit Gegenwitzen beantwortet wurde, sondern, indem man dem Betreffenden eine entsprechende Abreibung gab«. Goebbels habe daraufhin empfohlen, so Tießler, auf »Gerüchtemacher und Witzeerzähler […] dort, wo sie auftreten, ob in der Gesellschaft, in der Straßen- oder U-Bahn bzw. in Geschäften oder in Privatgesprächen, sofort damit [zu] antworten, dass wir ihnen eine herunterhauen«; es »genügten einige wenige Beispiele, um sie zum Verstummen zu bringen«. 99
    Im Laufe des Sommers 1943 fand diese Idee ihren organisatorischen Niederschlag: Die Berliner Gauleitung rief die so genannte Organisation B ins Leben. Über deren Aufgabe erfährt man in Goebbels’ Tagebuch: »Was übrigens die Stimmung anlangt, so kann man darüber sehr beruhigt sein. Die ›Organisation B‹ (Brachialgewalt) ist am Abend vorher in Dreiergruppen in den Arbeitervierteln tätig geworden. Sie hat 35 Lokale unauffällig überprüft, mit dem Entschluss, überall handgreiflich zu werden, wo etwas gegen den Führer oder gegen die allgemeine Kriegführung gesagt wurde. Es ist bezeichnend, dass die Organisation B bei diesem ersten ›Raid‹ nicht ein einziges Mal einzugreifen brauchte. Obschon überall über Krieg und Politik gesprochen wurde, ist nirgendwo auch nur ein einziges Wort über den Führer oder die Kriegführung gesagt worden, das zu einem Einschreiten Anlass gegeben hätte.« 100
    Einige Tage später ließ er siebenhundert Parteigenossen in Lokale des Berliner Westens ausschwärmen und konnte auch hier konstatieren, dass die Belauschten in keinem einzigen Fall Anlass zum »Einschreiten« gegeben hatten. 101 Dass dafür tatsächlich allgemeine Zufriedenheit verantwortlich war, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden; gerade für diesen Zeitraum deuten die Goebbels-Tagebücher und andere Quellen auf ein deutliches Stimmungstief hin. Doch diese Schlägertrupps sollten ja auch nicht die wirkliche Stimmung der Bevölkerung ermitteln, sondern jedes halböffentlich geäußerte kritische Wort bereits im Ansatz verhindern – mit einem Faustschlag ins Gesicht des »Miesmachers«. Außerdem hatte das Auftreten der »Organisation B« natürlich eine erheblich abschreckende Wirkung: Denn das Großaufgebot an schlagfertigen Parteigenossen wird auch den Kneipengängern nicht verborgen geblieben sein. Einige Tage später war die »Organisation B« wieder im Einsatz, wobei sie »nur in einem einzigen Falle handgreiflich werden musste. Nur in diesem Fall war festzustellen, dass einer öffentlich gegen die Führung oder gegen den Krieg zu meckern wagte. Der Delinquent ist denn auch gleich entsprechend behandelt und der Polizei übergeben worden. Sonst kann man in Berlin von einer sehr aufrechten und festen Haltung sprechen[...].« 102
    Im Dezember hatte das massierte Auftauchen schlagkräftiger Parteigenossen endgültig seinen Zweck erreicht, die Stimmungserkundung mit dem Schlagring in der Tasche war ein voller Erfolg: »Von Berlin hört man nur Angenehmes. Haegert hat die Organisation B zur Erkundung der Stimmung in der Reichshauptstadt angesetzt. Die Berichte, die mir von den einzelnen Rechercheuren eingereicht werden, sind mehr als positiv. Der Berliner hat sich bei den Luftangriffen in einer moralischen Haltung gezeigt, wie sie besser gar nicht vorstellbar ist.« 103

Antijüdische Propaganda in der zweiten Jahreshälfte 1943
    In der zweiten Jahreshälfte 1943 sollte die »Judenfrage« in der deutschen Propaganda keine große Rolle mehr spielen. In den Anweisungen an die deutsche Presse tauchte sie erheblich seltener auf als in der ersten Jahreshälfte, 104 und entsprechend ging die Anzahl der antisemitischen Beiträge in der deutschen Presse wieder zurück. 105
    Die Journalisten schenkten der »Judenfrage« so wenig Beachtung, dass das Propagandaministerium sich am 13. August 1943 zu der Ermahnung veranlasst sah, die vier Tage zuvor ergangene Tagesparole (»Zwischen den Juden in Washington, London und Moskau herrscht volle Eintracht«) streng zu beachten: »Obwohl in der Tagesparole des Reichspressechefs vom 9.8. erneut eindeutig darauf hingewiesen wurde, dass Bolschewismus und Kapitalismus der gleiche jüdische Weltbetrug, nur unter verschiedener Formierung sind, verfallen die

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