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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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bemerkenswertem Gegensatz zur Quantität: Die Gesamtproduktion des bis auf die Ortsebene reichenden und im Monatsrhythmus arbeitenden, weit gefächerten Berichtswesens der NSDAP dürfte für den Gesamtzeitraum von 1933 bis 1945 in der Größenordnung von mehreren Millionen Berichten liegen. Erhalten sind davon einige hundert.

Thesen zur Interpretation der Berichte
    Wie lassen sich diese von den verschiedenen Dienststellen »Dritten Reiches« erstellten Berichte deuten? Kann man sie tatsächlich als quasi demoskopisches Material vor der Erfindung der modernen Meinungsbefragung lesen, wie ein großer Teil der zu unserem Themenbereich arbeitenden Forscher es, wie wir gesehen haben, angenommen hat?
    Meiner Ansicht nach: nein. Meine wesentlichen Einwände fasse ich in vier Thesen zusammen:
    Erstens: Die zeitgenössischen Berichte konnten die tatsächliche »Stimmung« oder die »Meinungsbildung« nicht erfassen, da sie – verglichen mit modernen Formen der Demoskopie – methodisch völlig unterentwickelt waren. Obwohl durchaus Anstrengungen zur objektiven Berichterstattung unternommen wurden, gaben die Berichte, die aus der Perspektive der »teilnehmenden Beobachtung« erstellt wurden, in erster Linie subjektive Eindrücke der Beobachter wieder; repräsentativ konnten sie jedoch in keiner Weise sein.
    Selbstverständlich gab es auf verschiedenen Ebenen der Stimmungsberichterstattung Bemühungen, diese Subjektivität durch eine möglichst gleichmäßige Auswahl der Berichterstatter, durch Verpflichtungen der Informanten auf eine rein »sachliche« Berichterstattung und anderes mehr auszugleichen. Insbesondere in Bezug auf den SD herrscht in der Literatur, wie wir gesehen haben, vielfach die Meinung vor, diese Bemühungen seien grundsätzlich oder doch zumindest partiell erfolgreich gewesen. Diese Auffassung stützt sich unter anderem auf die Angaben, die Otto Ohlendorf, der Leiter der SD-Inlandsberichterstattung, nach dem Ende der NS-Diktatur machte. Erstmals äußerte er sich dazu in einem Memorandum, das er im Mai 1945 dem Leitenden Minister der Reichsregierung in Flensburg, Lutz von Schwerin-Krosigk, zuleitete. Demnach habe er es als seine Aufgabe angesehen, »der Staatsführung einen Nachrichtendienst über die sachlichen Probleme der einzelnen Lebensgebiete und die Auswirkungen der Maßnahmen der Staatsführung zu schaffen. Ich sehe einen solchen objektiven Nachrichtendienst als ein wichtiges Instrument an, ohne das keine Regierung eines großen Staatswesens in unserem Zeitalter hochkomplizierter Lebensverhältnisse auskommen kann.« 58 Vor allem gelte dies für einen Staat, »der auf dem Führungssystem beruht und ein Korrektiv durch parlamentarische oder publizistische Einrichtungen nicht vorsieht«. Ohlendorf zeigte sich im Übrigen großzügigerweise bereit, seine Dienste »erforderlichenfalls auch der Besatzungsmacht« zur Verfügung zu stellen, um »die objektive Beurteilung der Verhältnisse in Deutschland zu erleichtern«. 59
    In seiner Zeugenaussage vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal wiederholte Ohlendorf seine Auffassung: »[Der SD] war tatsächlich die einzige kritische Stelle innerhalb des Reiches, die nach objektiven Sachgesichtspunkten Tatbestände bis in die Spitzen hineinbrachte.« 60 Diese Aussage wurde durch den ebenfalls als Zeugen auftretenden Hans Rössner gestützt, seit 1940 im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), zuerst Referent, dann Abteilungsleiter in der Gruppe III C des für die Berichterstattung verantwortlichen Amtes III. 61
    Es ist ganz offensichtlich, dass das Herausstellen der »Objektivität« nach Kriegsende hier vor allem darauf zielte, den SD nicht als Teil des Repressionsapparates des »Dritten Reiches« darzustellen, sondern als einen reinen Informationsdienst. Die Behauptung ist Teil einer umfassenden, durch die Geschichtswissenschaft erst nach und nach rekonstruierten Verteidigungsstrategie Ohlendorfs. 62
    In der Tat liegt eine Reihe von Richtlinien für die Erstellung der SD-Berichte vor, so etwa die Arbeitsanweisung des SD-Leitabschnitts Stuttgart vom Oktober 1940, die die V-Männer dazu verpflichtete, die »tatsächlichen« stimmungsmäßigen Auswirkungen aller wesentlichen Maßnahmen zu berichten. 63 Heydrich wiederum schrieb für die »Bearbeitung der deutschen Lebensgebiete« vor, die Zusammensetzung des V-Männer-Netzes müsse auf »die Struktur des Abschnittes ausgerichtet sein, d.h. die im Abschnittsgebiet vorhandenen konkreten Schichtungen in Stadt und

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