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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Selbstbewusstsein der Parteiaktivisten, die jetzt davon ausgingen, dass die Mäßigung, die die Parteiführung ihnen bisher aus außenpolitischen Gründen auferlegt hatte, obsolet geworden sei. Das erste Ziel des antisemitischen Mobs waren jüdische Läden: Die Eingänge wurden durch Posten blockiert, Kunden fotografiert, Fensterscheiben beklebt oder zertrümmert, vor den Geschäften oder Häusern der Besitzer kam es zu Demonstrationen. Attackiert wurden außerdem vor allem Juden, die wegen ihres intimen Umgangs mit Nichtjuden als »Rassenschänder« bezichtigt wurden. In Badeanstalten wurden Zwischenfälle organisiert, die häufig mit der Verbannung von Juden endeten, und Parteiaktivisten drängten mehr und mehr darauf, an Ortseingängen »Warntafeln« aufzustellen, die den jeweiligen Ort für »judenfrei« erklärten. 1
    Seit April 1935 schaltete sich auch die NS-Presse verstärkt ein, um die Stimmung weiter aufzuheizen. Der Westdeutsche Beobachter machte in den ersten Apriltagen den Anfang, Blätter wie Der Angriff, die Braunschweiger Tageszeitung oder die Nationalsozialistische Schlesische Tageszeitung schlossen sich im letzten Drittel des Monats April der Kampagne an, der Völkische Beobachter folgte Ende April, Anfang Mai.
    Einige Parteizeitungen machten es sich dabei zur Aufgabe, die Namen von »artvergessenen Frauenspersonen« und »jüdischen Rassenschändern« zu veröffentlichen. Die Nationalsozialistische Schlesische Tageszeitung forderte zum Beispiel am 7. April zu Demonstrationen vor den Wohnungen der »angeprangerten« Personen auf und berichtete am folgenden Tag unter der Überschrift »Das Volk wehrt sich gegen Rassenschande« über entsprechende Kundgebungen in Breslau, wobei »das Volk« allerdings aus einer Reihe »altgedienter SA-Männer« bestand, die auf großen Plakaten die Namen der Inkriminierten publik machten. Der Westdeutsche Beobachter verteidigte die Veröffentlichung entsprechender Namenslisten im Blatt mit der Begründung, »wer sich am Gesetz der deutschen Rasse vergeht, ist ein Verbrecher, genauso wie ein Mörder oder ein Dieb!« 2 Im April hatte die NS-Presse außerdem Gelegenheit, das Revisionsurteil im ägyptischen »Judenprozess« – über das schon berichtet wurde – als Erfolg für NS-Deutschland und als Niederlage des »Weltjudentums« zu feiern.
    Seit Anfang 1935 erließen auch die Behörden wieder mehr antijüdische Bestimmungen: Juden wurden beispielsweise von den Prüfungen für Ärzte, Zahnärzte und Apotheker ausgeschlossen; die Gestapo verfügte, dass jüdische und nichtjüdische Emigranten, die in das Reich zurückkehrten, zunächst in Internierungslager einzuweisen seien, und nachdem die Gestapo im Februar Juden das Hissen der Hakenkreuzflagge verboten hatte, bestätigte das Reichsinnenministerium dieses eigenmächtige Vorgehen im April 1935 durch einen eigenen Erlass. 3
    Die Hintergründe für diese neue antisemitische Welle sind komplex. Wesentlich ist, dass das Regime die neuen Angriffe gegen Juden mit Kampagnen gegen die »Reaktion« und gegen die katholische Kirche verband. Ganz allgemein handelte es sich um den Versuch, zwei Jahre nach der Machtergreifung die weit verbreitete Unzufriedenheit und Apathie in der Bevölkerung aufzufangen und die offenkundigen Missstände, die in breiten Kreisen der Bevölkerung empfunden und artikuliert wurden, auf das Wirken von inneren Störenfrieden und Feinden zurückzuführen. Die nach wie vor miserable wirtschaftliche Lage sollte dem negativen Einfluss der Juden in der Wirtschaft zugeschrieben werden; für das weit verbreitete Gefühl von Unsicherheit und Bedrückung, das viele angesichts der alltäglichen Repression in der Diktatur empfanden und das sich in Kritik an der Kirchenverfolgung und dem Bonzentum der Partei äußerte, sollten Regimegegner (Juden, Reaktionäre, der politische Katholizismus) verantwortlich gemacht werden, die der Errichtung einer geeinten »Volksgemeinschaft« angeblich subversiv im Wege standen und die es daher auszuschalten galt.
    In diesem Zusammenhang kam den antijüdischen Aktionen eine zentrale Bedeutung zu: Indem die Parteiorganisation versuchte, durch Androhung oder tatsächliche Anwendung von Gewalt das Einkaufen in jüdischen Geschäften zu verhindern, Geschäftskontakte und private Beziehungen mit Juden zu unterbinden, Juden aus Bädern zu vertreiben und ganze Orte für »judenfrei« zu erklären, sollte die nationalsozialistische Forderung nach vollkommener Segregation der Juden

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