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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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augenfällig verwirklicht werden. Die Anstrengungen, die Bevölkerung als solche dazu zu bringen, diese Ausgrenzung in ihrem Alltagsverhalten zu akzeptieren und zum Ausdruck zu bringen, war auch ein Akt der Unterwerfung unter das Diktat der örtlichen Parteiorganisation. Mit der Aufgabe von Kontakten zu Juden sollte die Bevölkerung nach außen hin ihr Einverständnis mit der Politik des Regimes signalisieren und dokumentieren, dass sie erfolgreich einen Lernprozess durchlaufen hatte und nun die Auffassung der Partei teilte, die »Judenfrage« sei der Schlüssel zur Lösung der wesentlichen Probleme des »Dritten Reiches«.
    Die Gesetze, die diese Segregation im Einzelnen regelten, konnten als logische Folge der Ausschreitungen betrachtet werden: Angesichts der heftigen antisemitischen Aktionen kamen sie lediglich dem lautstark demonstrierten »Volkswillen« nach. Zusammen mit der Ausschaltung kirchlicher und reaktionärer Kräfte bedeutete die Durchsetzung dieser Segregation der jüdischen Minderheit de facto auch eine erhebliche Machterweiterung der Partei.
    Es gab jedoch Anzeichen dafür, dass die antijüdische Kampagne sich im Laufe des Monats Mai in zwei Hauptunruhegebieten, im Rheinland und in Westfalen, bereits wieder abzuschwächen begann. 4 Gegen eine Fortsetzung der Aktionen hatten sich unter anderem der Stellvertreter des Führers in einem Aufruf vom 11. April und der Reichswirtschaftsminister Schacht in einer Denkschrift von Anfang Mai gewandt. 5 Diese öffentlichen Aufrufe wurden durch eine ganze Reihe interner Stellungnahmen von Behördenvertretern (darunter auch Leiter von Gestapodienststellen) gestützt. 6 Für eine Einstellung der Ausschreitungen sprach nicht nur, dass die fortgesetzten Aktionen der Parteiaktivisten die Autorität der weitgehend untätig zusehenden Staatsmacht unterhöhlten – auch die Außenpolitik spielte erneut eine Rolle.
    Als Großbritannien, Frankreich und Italien im April 1935 auf die Einführung der Wehrpflicht in Deutschland mit der gemeinsamen Erklärung von Stresa reagierten (man sprach von der »Stresa-Front«), sah sich das »Dritte Reich« wieder der Gefahr außenpolitischer Isolierung ausgesetzt. Die Regierung reagierte mit einer Vertrauensoffensive: Hitler verkündete in seiner Reichstagsrede vom 21. Mai seinen Friedenswillen. Die Hoffnungen konzentrierten sich auf die – seit dem Besuch des britischen Außenministers Sir Samuel Hoare Ende März in Berlin eröffnete – Perspektive, mit Großbritannien zum Abschluss eines Flottenabkommens zu kommen. Tatsächlich fanden nach zweimonatigen Vorbereitungen seit dem 4. Juni deutsch-britische Verhandlungen statt, die am 18. Juni in die Unterzeichnung des Flottenabkommens mündeten. Da die Aufnahme der Verhandlungen und die Verhandlungen selbst in der britischen Öffentlichkeit stark umstritten waren, betrachtete das Regime antijüdische Ausschreitungen insbesondere im Mai und Juni 1935 als außerordentlich kontraproduktiv. 7
    Dennoch konnte es in diesem kritischen Zeitraum nur teilweise für Ruhe an der antijüdischen Front sorgen: In einer Reihe von Gauen setzten sich die Parteiaktivisten auch im Monat Mai über die Pazifizierungsanstrengungen der Parteiführung hinweg, 8 nicht zuletzt wegen der heftigen antisemitischen Agitation der Parteipresse bis etwa Mitte Mai. 9
    Besonders eklatant zeigte sich dies in München, wo Parteiaktivisten seit Ende März immer wieder mit den üblichen Mitteln gegen jüdische Geschäfte vorgegangen waren. Dort eskalierten die Ereignisse in der zweiten Maihälfte: Zunächst störten Trupps von NS-Anhängern am 18. Mai massiv eine Sammelaktion der katholischen Caritas und griffen im Zuge der Tumulte, die daraufhin in der Münchner Innenstadt ausbrachen, auch jüdische Geschäfte an. Eine Woche später, am 25. Mai, erzwangen NS-Anhänger in Zivil, meist Angehörige der SS-Verfügungstrupppe, eine Blockade der jüdischen Geschäfte in der Münchner Innenstadt; wieder kam es zu Tumulten, außerdem – bei dem Versuch, eine Parteiwache zu stürmen – zur offenen Konfrontation mit der Polizei. Gauleiter Adolf Wagner, dem im Zusammenhang mit dieser »Aktion« schwere Vorwürfe gemacht wurden, sah sich schließlich gezwungen, sich von den Ereignissen zu distanzieren. 10
    Die Münchner Vorfälle, die so gar nicht zu dem Bild eines zur Völkerverständigung bereiten Deutschland passen wollten, wurden in der Presseberichterstattung lapidar und uniform behandelt: Ende Mai konnte man in den meisten

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