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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Ausdruck von Eigeninteresse interpretieren kann) wurden außerdem Mitleid, Mitmenschlichkeit und religiöse Motive als ausschlaggebend genannt. 67
    Bankier und Kershaw betonen in ihrer Analyse der Berichte meiner Ansicht nach zu einseitig die utilitären beziehungsweise selbstsüchtigen Motive für die Ablehnung der Judenverfolgung, also die Angst vor negativen außenpolitischen Folgen oder kontraproduktiven ökonomischen Auswirkungen. 68 Insbesondere Bankier übergeht dabei häufig Berichte, in denen durchaus prinzipieller Widerspruch und moralische Bedenken deutlich gemacht werden. 69
    Die Motive der Bevölkerung, die antijüdische Politik in der einen oder anderen Weise zu kritisieren, werden sich jedoch wohl kaum mit Hilfe einer quantitativen Auswertung der einschlägigen Berichtszitate ermitteln lassen: Unsere Analyse kann nicht davon abhängig gemacht werden, ob in dem überlieferten Berichtsmaterial Angst vor wirtschaftlichen Folgen drei Mal, Mitleid jedoch nur zwei Mal genannt wird. Stattdessen müssen wir uns vor allem von quellenkritischen Überlegungen leiten lassen: Dass die Berichte den Eindruck erwecken, es werde eher die Methode, die »Form« der antisemitischen Politik kritisiert als deren Inhalte und Zielsetzungen, dass sie dort, wo Kritik geäußert wurde, durchaus eigensüchtige Motive in den Vordergrund treten lassen – dies könnte durchaus mehr mit den Entstehungsbedingungen der Berichte als mit der tatsächlichen »Volksstimmung« zu tun haben. Was die Berichterstattung einfing, waren ja nicht tatsächliche Einstellungen »der Bevölkerung«, sondern Äußerungen, die sich Bürger in Situationen erlaubten, in denen sie damit rechnen mussten, durch Spitzel und Zuträger des Regimes abgehört zu werden. Eine Bemerkung über das Rowdytum der illegal handelnden Parteiaktivisten (die sich ja häufig nicht als solche zu erkennen gaben, sondern sich als »Volk« tarnten) oder Äußerungen der Besorgnis über die negativen volkswirtschaftlichen Schäden solcher Aktionen waren hier wesentlich ungefährlicher als eine grundsätzlich angelegte Kritik an der Judenverfolgung des Regimes. Diese »Tarnung« der Kritik spiegelt sich auch in den Berichten selbst wider: Der Regierungspräsident von Kassel meinte etwa, es sei zwar »im großen und ganzen die Sprache doch eine freiere geworden«, doch seien »immer noch die Ausdrücke ›Ich kann‹ oder ›Ich darf ja nichts sagen‹« zu hören; dies und »der Umstand, dass der Deutsche Gruß wieder in starkem Maße den Begrüßungen ›Guten Morgen‹, ›Guten Tag‹, ›Auf Wiedersehen‹ gewichen ist und oft nicht einmal erwidert wird«, ließen darauf schließen, »dass im Stillen manche Kritik geäußert wird, die man sich scheut offen zur Sprache zu bringen«. 70
    Auch die Gestapo Düsseldorf sah sich mit diesem Problem konfrontiert, wie ihrem Bericht für April 1935 zu entnehmen ist. Die Meinungsbildung zog sich demnach aus der »Öffentlichkeit« zurück: »Man lebt sein eigenes Leben, macht sich nur seine eigenen Gedanken, hat seine private Meinung, die man nur im engsten Kreise Vertrauten und Freunden gegenüber äußert. Trotzdem immerzu ein lebhafter Meinungsaustausch gepflogen wird, gleiche Anschauungen, gleiche Begriffe und Formulierungen, selbst Witze im Wortlaut überall bekannt sind, ist in der Öffentlichkeit kaum festzustellen, wie schnell und gleichmäßig diese Ausbreitung vor sich geht. Man sei ›überall informiert‹, hat seine ›Meinung‹, aber man zeigt es nicht und ist geübt, zu schweigen. Ein Gefühl der Enttäuschung und der Unzufriedenheit, sei es aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen, spielt auch hier eine Rolle.« Diese »Unterströmungen« würden in der Zukunft »von immer größerer Bedeutung werden, weil eine Tendenz, sich den Einflüssen der Propaganda und der Partei-Instanzen immer mehr zu entziehen, zugenommen hat«. 71
    Im Herbst 1935 war die Situation für die Berichterstatter noch komplizierter geworden, wie der Regierungspräsident von Oppeln plastisch schilderte: »Die allgemeine Stimmung der Bevölkerung richtig zu beurteilen, ist heute schwieriger denn je, da die Bevölkerung in Äußerungen außerordentlich vorsichtig geworden ist. Die Schärfe, mit der von Seiten des Staates Äußerungen der Kritik unterbunden werden, sowie das Denunziantentum bewirken, dass die unzufriedenen Elemente ihr Missfallen an den allgemeinen Vorgängen und Einrichtungen nicht oder nur in versteckter, darum aber

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