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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Bevölkerung hervorgerufen. So wurden in einzelnen Orten, in denen Juden gern zu verkehren pflegen, Schilder mit der Aufschrift ›Juden unerwünscht‹ angebracht.« Der Bericht fuhr fort und stellte klar: »In Eberswalde ist von einer Ortsgruppe der Partei ein Aushängekasten angebracht, in dem die Namen der jüdischen Geschäftsinhaber von Eberswalde ausgehängt sind.« 54
    Die Gestapo Hannover meldete: »Kennzeichnend für die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber den Juden sind auch in diesem Monat eine Reihe von Einzelaktionen gegen jüdische Geschäftsinhaber und Warenhäuser.« Weiter erfährt man dann im Bericht: »In Northeim wurden in der Nacht zum 3. dieses Monats 2 Fensterscheiben des Hotels ›Sonne‹ eingeworfen, außerdem bei jüdischen Geschäften mehrere große Scheiben. Die Täter sind durch die Ortspolizeibehörde ermittelt und haben ein Geständnis abgelegt. Es handelt sich um einige Angehörige der SS.« In anderen Fällen waren die Täter nicht feststellbar. 55
    Die Stapostelle Schleswig meldete unverblümt: »Im übrigen ist jedoch zu bemerken, dass, wenn es zur Stellungnahme und Aktionen gegen Juden kommt, diese meist von den Angehörigen der NSDAP und der angeschlossenen Organisationen ausgehen, während die große Menge des Volkes selbst, jedenfalls im hiesigen Bezirk, wenig Teilnahme für die Judenfrage zeigt.« 56 Der Landrat von Neustadt am Rübenberge stellte fest: »Die antisemitische Bewegung in der Bevölkerung würde voraussichtlich immer weiter abflauen, wenn dem nicht durch die dauernde Gegenarbeit der NSDAP ein Riegel vorgeschoben würde. Die Tätigkeit der Partei ist daher zweifellos notwendig.« 57
    Die Leichtfertigkeit, mit der die offiziellen Berichterstatter jedoch Aktionen, die eindeutig von der Partei ausgingen, als Reaktionen »der Bevölkerung« ausgaben, sollte Anlass sein, grundsätzlich alle Äußerungen über das Verhalten »der Bevölkerung« mit gebotener Skepsis zu bewerten. 58 Wir haben es nicht mit demoskopischem Material zu tun, deren Urheber von der Absicht geleitet wurden, das tatsächliche Verhalten der Bevölkerung zu ermitteln und aufzuzeichnen. Diese Dokumente sind vielmehr der Beleg für einen fortschreitenden Prozess, in dem das Regime versuchte, bestimmte Verhaltensweisen gegenüber Juden als verbindliche Norm durchzusetzen. Partei- und Staatsdienststellen begnügten sich nicht damit, in neutraler Form über Erfolge und Misserfolge dieses Umerziehungsprozesses zu berichten; vielmehr ist die Berichterstattung selbst Teil dieses Umerziehungsprozesses und muss entsprechend gelesen werden.
    Die Stimmungsberichterstattung konnte negative Reaktionen der Bevölkerung auf die zunehmende Verfolgung der Juden allerdings auch nicht ignorieren. Tatsächlich machen die Berichte insgesamt deutlich, dass die große Masse der Bevölkerung sich durch die Boykottaktionen nicht davon abschrecken ließ, weiterhin in jüdischen Geschäften einzukaufen. Dies galt insbesondere für die Landbevölkerung. Die Berichte führten diesen Misserfolg vor allem auf materielle Interessen zurück; die antisemitische »Aufklärung«, 59 so die Berichterstattung, könne offensichtlich gegen dieses Eigeninteresse wenig ausrichten, sie stoße auf Unverständnis. 60 Die nationalsozialistische »Judenpolitik«, lautete das wiederkehrende Fazit, werde ganz einfach nicht verstanden. 61
    Ein Vorfall in einem Kurort, wo eine Reihe von Villenbesitzern sich gegen die Aufstellung eines »Stürmer-Kastens« gewehrt hatte, so berichtete die Mecklenburgische Polizei, zeige »blitzartig, wie schnell der Rassengedanke in den Hintergrund tritt, wenn nicht den Volksgenossen eine ständige Aufklärung über die Rassentheorie und über die verderblichen Einflüsse, die vom Judentum ausgehen, gegeben wird«. 62
    Neben der beharrlichen Weiterverfolgung solcher materiellen Interessen lassen die Berichte erkennen, dass aus der Bevölkerung vor allem Kritik an der gewalttätigen Form des Vorgehens gegen die Juden kam, 63 dass aber auch Bedenken gegen die gesamte »Judenpolitik« des Regimes geäußert wurden. 64 Diese Kritik war, so ist den erhaltenen Berichten zu entnehmen, offensichtlich umso deutlicher, je länger die Pressionen gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil anhielten.
    Dahinter steckte offenbar nur zum Teil die Angst, die antijüdische Politik könne zu unangenehmen Rückwirkungen (wirtschaftlicher 65 oder außenpolitischer 66 Art) führen; neben solchen Äußerungen (die man auch als

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