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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Judenhetze ist nur ganz selten Widerstand gegen die Naziaktion zu verzeichnen, man hört zwar Stimmen wie ›Nun kaufe ich gerade beim Juden‹, aber im allgemeinen fürchtet man sich und gibt dem Druck der Nazis nach.« 37
    Auch die Berichte der Sopade, der im Exil aufgebauten Organisation der deutschen Sozialdemokratie, stehen ganz im Zeichen der Ablehnung der »Judenhetze« und der antisemitischen Ausschreitungen durch die allgemeine Bevölkerung. 38 Sie verzeichnen Abscheu, 39 Empörung 40 und Unruhe; 41 vier Fünftel der Bevölkerung lehnten »die Judenhetze« ab. 42 Die Erregung der Bevölkerung über das Vorgehen der Parteiaktivisten habe an einigen Orten dazu geführt, dass sich heftig diskutierende Menschenmengen gebildet hätten, zum Teil sei es zu scharfen Wortwechseln mit den Parteianhängern, ja sogar zu Schlägereien gekommen. 43 Nur ganz vereinzelt ist von Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit oder gemischten Reaktionen die Rede. 44
    Nachdenklich stimmt ein Bericht vom September aus Bayern: »Die Judenverfolgungen finden in der Bevölkerung keinen aktiven Widerhall. Aber sie bleiben andererseits doch nicht ganz ohne Eindruck. Unmerklich hinterlässt die Rassenpropaganda doch ihre Spuren. Die Leute verlieren ihre Unbefangenheit gegenüber den Juden und viele sagen sich: Eigentlich haben ja die Nazis mit ihrem Kampf gegen die Juden doch recht, aber man ist gegen die Übertreibungen dieses Kampfes und wenn man in jüdischen Warenhäusern kauft, dann tut man es in erster Linie nicht, um den Juden zu helfen, sondern um den Nazis eins auszuwischen.« 45 Auch in anderen Berichten der Sopade findet sich der Hinweis, dass in jüdischen Geschäften nicht in erster Linie aus Solidarität mit den Juden eingekauft werde, sondern aus Opposition gegen das Regime. 46
    Die Stimmungsberichte, die das Regime selbst erstellen ließ, zeigen, dass die Resonanz der antijüdischen Ausschreitungen in der Bevölkerung keineswegs einheitlich bewertet wurde. Nur in einer relativ kleinen Anzahl von Berichten wird die Reaktion auf die Ausschreitungen durchgängig als positiv dargestellt, 47 wobei diese Angaben aber meist recht pauschal sind 48 oder sogleich mit Einschränkungen versehen oder mit gegenläufigen Beobachtungen 49 kontrastiert werden. Aus einer Reihe von Berichten ist zu entnehmen, dass sich die Zustimmung auf die »nationalsozialistische Bevölkerung« beschränkte. 50 Die vielfach schwammigen Formulierungen legen nahe, dass die Berichterstatter sich in erster Linie von ihrer Wunschvorstellung einer homogenen, unter nationalsozialistischer Führung stehenden »Volksgemeinschaft« leiten ließen und von diesem Standpunkt aus oppositionelle Stimmen nur als – bald überwundene – Randerscheinung bewerteten. Von sorgfältiger Meinungsforschung konnte nicht die Rede sein. Die Begriffe »nationalsozialistische Bevölkerung« und »Bevölkerung« wurden in den Berichten offenbar häufig synonym verwendet.
    So finden sich in den Berichten zahlreiche Beispiele teilweise gewalttätiger Demonstrationen gegen jüdische Bürger, die als spontane Reaktion »der Bevölkerung« ausgegeben werden, obwohl eindeutig ist, dass diese Aufmärsche von lokalen Parteidienststellen organisiert wurden. Die Münchner Tumulte im Mai 1935 wurden beispielsweise in den offiziellen Berichten meist auf das Handeln »der Menge« zurückgeführt, obwohl die Initiative von NSDAP-Anhängern ausging. 51 Ein weiteres, typisches Beispiel: Als in Labes (Regierungsbezirk Stettin) ein jüdischer Kaufmann den Ortsgruppenleiter der NSDAP durch seine Buchhalterin fragen ließ, wer für die Anbringung judenfeindlicher Schilder im Ort verantwortlich sei, sprach sich dies, so der Bericht der Gestapo, »unter der Bevölkerung schnell herum, und eine etwa tausendköpfige Menge veranstaltete eine Demonstration vor dem Hause des Juden Kronheim«. 52 Dass mehr als zwei Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein solcher Massenaufmarsch zustande kam, ohne dass die lokale Parteiorganisation ihre Finger im Spiel hatte, ist höchst unglaubwürdig. 53
    Immer wieder finden sich in den Berichten Beispiele, in denen unzweifelhaft von Parteiaktivisten organisierte Aktionen generell als Äußerungen der Volksstimmung ausgegeben werden. Die Stapostelle Potsdam etwa berichtete über eine Reihe von Aktivitäten »der Bevölkerung«: »Das selbstbewusster und frecher werdende Auftreten der Juden hat auch in meinem Bezirk hier und da schon Gegenmaßnahmen durch die

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