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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Propagandisten es wünschen. Noch heute kommen die jüdischen Hopfenhändler in jedes Dorf, und die Bauern machen gerne mit ihnen Geschäfte.« 29 Aus Nordwestdeutschland hieß es um die gleiche Zeit: »Die Bevölkerung ist im Grunde nicht – zumindest nicht aktiv – antisemitisch. Die Schreier bestimmen den Ton. Wenn man mit dem Einzelnen spricht, begegnet man in der Regel Achtung und Sympathie.« 30
    Die Stapoleitstelle München beklagte im Sommer 1937, dass gerade die Landbevölkerung weiter Geschäfte mit Juden betreibe. Hierfür seien auf den ersten Blick wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend, die »tiefere Ursache liegt jedoch in der Einstellung der Bauern, die jegliches Rassenbewusstsein vermissen lässt«. 31 Auch die Reichsfrauenführung monierte, die »Judenfrage« bedürfe dringend »einer weitgehenden Aufklärung«, sowohl auf dem Land, wo die Bauern weiter ihre Viehgeschäfte mit Juden machten, wie in der Stadt, wo man immer wieder von »Beamten- und Professorenfrauen« höre, die bei Juden kauften. 32
    Ein vom »Frankenführer« Streicher in seinem Gaugebiet Ende des Jahres 1937 ausgerufener Weihnachtsboykott, so der SD-Oberabschnitt Süd in einem Bericht, werde in »der Bevölkerung […] mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Während der nationalsozialistisch eingestellte Teil der Bevölkerung den Boykott begrüßte, wird besonders in Wirtschaftskreisen lebhafte Kritik daran geübt […] Die Durchführung des Boykottes stieß zum Teil auf aktiven Widerstand Einzelner, wobei es verschiedentlich zu Zusammenstößen kam, die zum Teil blutig endeten.« 33
    Wie soll man diese offensichtlich weit verbreitete Hartnäckigkeit bewerten? David Bankier merkt hierzu an, die Bevölkerung – Arbeiter, Bauern, Angehörige des Bürgertums – habe mit der Aufrechterhaltung von wirtschaftlichen Beziehungen zu Juden hauptsächlich ihre materiellen Eigeninteressen verfolgt; Teile der Arbeiterschaft hätten darüber hinaus ihre allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik des Regimes signalisieren wollen, und die Landbevölkerung habe einfach gewachsene bäuerliche Traditionen nicht aufgeben wollen. Solidarität mit den drangsalierten jüdischen Händlern sei jedenfalls kein wesentliches Motiv gewesen. 34 Mir scheint demgegenüber jedoch wichtig zu sein, dass die konsequente Missachtung einer durch die Partei massiv vorangetriebenen Kampagne, die in dem fortgesetzten Einkaufen bei jüdischen Händlern zum Ausdruck kommt, gekoppelt mit dem immer wieder berichteten »Unverständnis« in der »Judenfrage«, deutlich zeigt, dass sich erhebliche Teile der Bevölkerung, offensichtlich aus allen Schichten, der vom Regime betriebenen Ausrichtung ihres Verhaltens an bestimmten Normen widersetzten. Die – nicht verbotene – Aufrechterhaltung von wirtschaftlichen Beziehungen zu Juden war eine relativ risikolose Möglichkeit, diesen Unwillen gegenüber den alltäglichen Zumutungen des Regimes öffentlich zum Ausdruck zu bringen, und die Begründung, die man angab, wenn man zur Rede gestellt wurde – dass man Geld sparen wolle -, war nur allzu plausibel und konnte nicht infrage gestellt werden. Angesichts der großen Bedeutung, die die Partei dem Boykott jüdischer Wirtschaftstätigkeit im Rahmen ihrer antisemitischen Politik beimaß, ist es jedenfalls bemerkenswert, dass große Teile der Bevölkerung ihr Verhalten trotz jahrelanger »Erziehungsarbeit« offenbar kaum änderten. 35
    Die Judenabteilung des SD-Hauptamtes gab in einem Lagebericht für die erste Septemberhälfte eine andere, alarmierende Beobachtung wieder: Jüdische Familien würden zunehmend ausländische Dienstmädchen einstellen und damit die Bestimmungen der Rassegesetze umgehen; dies rufe – ebenso wie das Fehlen antisemitischer Wirtschaftsgesetze – »naturgemäß in der Bevölkerung große Erregung« hervor. 36 Diese angebliche »Erregung« steht jedoch im Gegensatz zur übrigen Berichterstattung der SD-Judenabteilung: Im Lagebericht für November 1937 beschäftigte sie sich mit der »steigenden Interessenlosigkeit der breiten Bevölkerung an der Judenfrage«, die zumindest teilweise »zweifellos in dem Nachlassen der intensiven Propaganda der Parteistellen« begründet sei; 37 zwei Wochen später sprach die gleiche Stelle von der »allgemein gezeigten laschen Haltung der Bevölkerung gegenüber der Judenfrage«. 38
    Eine Reihe von Berichterstattern bemühte sich, die offensichtlich nicht zu leugnende Unterstützung für die jüdische Minderheit ganz auf

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