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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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den Augenblick zur endgültigen Liquidierung der Judenfrage gekommen glaubten.« 130
    Nur wenige Tage später sollte das Regime den Parteiaktivisten Gelegenheit geben, ihren Hass und ihre Gewaltbereitschaft gegenüber der jüdischen Minderheit hemmungslos auszuleben.

Novemberpogrom
    Das Attentat des in Deutschland aufgewachsenen siebzehnjährigen Herschel Grynszpan, eines polnischen Staatsangehörigen jüdischer Herkunft, auf den Legationssekretär an der Deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, am 7. November 1938 sollte dem NS-Regime den Vorwand liefern, die seit Frühjahr 1938 anhaltende Welle antijüdischer Gewalt in einem Pogrom münden zu lassen. Geplant war, dadurch eine Massenflucht der Juden aus Deutschland auszulösen, die internationale Staatenwelt moralisch dazu zu zwingen, mehr Einreisemöglichkeiten für jüdische Emigranten aus Deutschland zu schaffen, und die Ausschreitungen als Ausgangspunkt für eine weitere Welle antijüdischer Gesetze zu nutzen, um die »Arisierung« jüdischer Vermögen abzuschließen und die Juden endgültig und vollständig aus der deutschen Gesellschaft auszusondern. 1
    Gleichzeitig sollte die nationalsozialistisch dirigierte Öffentlichkeit in einer groß angelegten Kampagne neu ausgerichtet werden: Es galt, den Eindruck zu erwecken, als habe sich im Progrom der »Volkszorn« Luft gemacht. Obwohl eindeutig antisemitische Parteiaktivisten den Pogrom auslösten und durchführten, wurde die allgemeine Bevölkerung doch in die Geschehnisse hineingezogen: Ihr fiel die Rolle von Zuschauern und Zeugen zu, die die Gewaltaktionen, die in ihrem Namen und in aller Öffentlichkeit begangen wurden, unmittelbar miterlebten und, wenn sie sich den Tätern entgegenstellten, selbst Gefahr liefen, angegriffen zu werden. Im Unterschied zu früheren Ausschreitungen, von denen sich die Partei- und Staatsführung immer distanziert hatte, sanktionierte das Regime diesmal den offenen Terror der SA- und SS-Leute, die Plünderungen, Brandschatzungen, Misshandlungen, Verschleppungen und Morde, nachträglich und offiziell als berechtigte, durch das Volk begangene »Vergeltungsaktion«. Damit wurde der Anschein der Rechtsstaatlichkeit, den das Regime bis dahin immer aufrechterhalten hatte, indem es zumindest offiziell gegen »wilde« antisemitische Ausschreitungen eingeschritten war, endgültig aufgegeben. Die passive Hinnahme von Gewalt und Rechtlosigkeit durch die Bevölkerung wurde wiederum in der Propaganda als kollektive Zustimmung zu den Gewaltaktionen ausgegeben. Nun, da es dem Regime gelungen war, den Pogrom ohne massiven Widerstand der Bevölkerung durchzuführen, machte es in seiner öffentlichen Darstellung der Ereignisse die Bevölkerung zu Komplizen des gewalttätigen Anschlags auf die deutschen Juden.

Der Pogrom in der Presse
    Auf das Attentat vom 7. November, bei dem vom Rath schwer verletzt worden war, reagierte das Propagandaministerium mit der Anweisung an die deutsche Presse, »in größter Form« zu berichten; es sei in »eigenen Kommentaren […] darauf hinzuweisen, dass das Attentat der Juden die schwersten Folgen für die Juden in Deutschland haben muss«. 2 Am kommenden Tag wurde die Presse noch einmal über die offizielle Auffassung informiert, hinter dem Attentat stünden »die gleichen Kreise wie beim Fall Gustloff«. 3 Am 9. November erfuhren die Redaktionen durch das Deutsche Nachrichtenbüro, dass mit dem Ableben vom Raths zu rechnen sei. 4
    Entsprechend fiel die Berichterstattung der deutschen Presse aus; man schilderte die bekannten Einzelheiten des Attentats und vom Raths kritischen Zustand. 5 Wie vom Propagandaministerium angeordnet, kommentierten die Zeitungen die Ereignisse mit Drohungen gegen die in Deutschland lebenden Juden. Der Angriff vom 9. November etwa warnte: »Aus dieser Untat entsteht gebieterisch die Forderung, nunmehr mit den schärfsten Konsequenzen gegen die Juden vorzugehen, deren internationale Verfilzung dem Maß ihrer internationalen Verkommenheit entspricht.«
    Der Westdeutsche Beobachter vom 8. November 1938 schrieb in seiner Morgenausgabe: »Es wird an der Zeit sein, den jüdischen Schmarotzern auf deutschem Boden endlich jenes Leben zu verschaffen, das täglich in spaltenlangen Greuelmeldungen einer gewissen Auslandsjournaille mit unverschämten Angriffen auf das deutsche Volk geschildert wird. Wer den Mord als erlaubtes ›Demonstrationsmittel‹ zur Unterstreichung einer verbrecherischen Lügenkampagne braucht, kann mit keiner weiteren

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