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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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gegen die deutschen Juden nicht aus, erteilte jedoch gewalttätigen Aktionen eine Absage. Ziel der antisemitischen Politik sei eine »reinliche Scheidung zwischen Deutschen und Juden«. Versuchten die deutschen Juden, die neuen gesetzlichen Bestimmungen zu umgehen, so »wird es neue Gesetze geben, damit neue Demonstrationen vermieden werden. Eine andere Möglichkeit besteht nicht.« Deutschland habe »nur ein Interesse daran, dass die Juden aus dem Lande gingen«. Am 23. November hielt Goebbels noch eine Rede zur »Judenfrage«, die ebenfalls von der gesamten Presse übernommen wurde und weitere Vorgaben für die Propaganda enthielt. 70
    Diese Stellungnahmen des Propagandaministers bildeten die Eckpfeiler einer Mitte November gestarteten antisemitischen Propagandakampagne bislang unerreichter Intensität. In den kommenden Monaten wurde die »Judenfrage« zum alles beherrschenden Thema. Hatte man die antijüdischen Kampagnen der vergangenen Jahre in erster Linie über die Parteipresse geführt, wurde nun erstmals der Apparat des Propagandaministeriums in großem Umfang genutzt, um antisemitische Sprachregelungen an die gesamte Presse auszugeben. Entsprechend erschienen jetzt in praktisch allen deutschen Zeitungen täglich mehrere Beiträge zum Thema. 71 Anders als 1935 und (in geringerem Maße) im Frühjahr/Sommer 1938 lassen sich im Anschluss an den Pogrom keine wesentlichen Unterschiede zwischen Parteipresse und nichtnationalsozialistischen Blättern mehr feststellen. Bis in den Sommer 1938 hatten sich die ehemals bürgerlichen Blätter zumindest bemüht, über die antisemitischen Maßnahmen in erster Linie zu berichten und die Haltung der Redaktion offen zu halten; jetzt vermengten sich Berichterstattung und Kommentierung zu einer fast geschlossenen antisemitischen Hetzkampagne der gesamten Presse. Damit markiert der Novemberpogrom eine wichtige Etappe bei der Gleichschaltung der deutschen Presse: Mit Hilfe der »Judenfrage« wurde die gesamte Presse auf eine einheitliche Linie gebracht.
    Die Kampagne verfolgte das Ziel, durch die Betonung der nun gegen die deutschen Juden ergriffenen gesetzlichen Maßnahmen die Erinnerung an die Gewalttaten vom 9. und 10. November in den Hintergrund zu drängen beziehungsweise die Gewaltaktionen nachträglich zu rechtfertigen. Gleichzeitig sollte die Bevölkerung nachdrücklich auf die weiterhin gebotene Distanz gegenüber Juden im Alltagsverhalten eingeschworen werden: Die während des Pogroms laut gewordene Kritik und Ablehnung der Gewaltaktionen hatte in der nationalsozialistisch kontrollierten Öffentlichkeit keinen Platz und sollte, das war offensichtlich das Hauptziel der Propagandaaktion, zum Verstummen gebracht werden. Außerdem galt es, der antijüdischen Politik des Regimes den Anschein einer »Zukunftsperspektive« zu geben; auch deshalb stand die antijüdische Gesetzgebung im Vordergrund der Presseberichterstattung. Daneben wurde die alte Propagandalinie fortgesetzt, jüdische Kriminalität besonders hervorzuheben und Juden in jeder nur denkbaren Form mit Skandalen in Verbindung zu bringen. 72
    Zur Entkräftung der ausländischen Kritik wurde die Presse aufgefordert, verstärkt über britische Gewalttaten gegen Araber in Palästina zu berichten. 73 »Wo bleibe denn«, so die auf der Pressekonferenz ausgegebene Leitlinie, »das Weltgewissen angesichts der Greueltaten in Palästina, das so wach sei, wenn in Deutschland ein paar Fensterscheiben kaputt gingen oder einige Synagogen brannten?« 74 Der Westdeutsche Beobachter fand bereits am 12. November den in dieser Entlastungsoffensive gewünschten Ton: »Kehrt vor der eigenen Tür! Internationale Einmischungsversuche zur Judenfrage in Deutschland.« 75
    Zu den Hauptmotiven der Kampagne zählte die Behauptung, der Antisemitismus befinde sich auch im Ausland im Aufwind, was sich insbesondere in einer fast geschlossenen Abwehrfront gegen eine weitere jüdische Einwanderung zeige. 76 Das Berliner Tageblatt , das zu diesem Thema ausgiebig berichtete, zog am 29. November die gewünschte Schlussfolgerung: »Wie aus den fortgesetzt aus aller Welt einlaufenden Meldungen hervorgeht, spitzt sich in wachsendem Tempo die Judenfrage genau in jener Richtung zu, die vorauszusehen war für den Augenblick, in dem auch die übrige Welt aus diesem oder jenem Grunde gezwungen sein würde, sich mit ihr unmittelbar auseinanderzusetzen. Nichts ist plötzlich unaktueller geworden, als das bisher gegen Deutschland bemühte platonische Mitgefühl

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