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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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lebenden Juden; dies aber konnte bewerkstelligt werden, ohne erneut die nationalsozialistisch dirigierte Öffentlichkeit einzuschalten. Die Ermüdungserscheinungen der antisemitischen Propagandakampagne im Laufe des Winters 1938/39 deuten darauf hin, dass das breite Publikum mit antisemitischer Propaganda übersättigt worden war. Die Indifferenz galt weniger dem Schicksal der Juden als vielmehr der ewigen propagandistischen Litanei. Das Hauptziel der Propagandakampagne nach dem Novemberpogrom, die aufgekommene Kritik an der »Judenpolitik« des Regimes zum Verstummen zu bringen, war damit erreicht. Die Stimmungsberichterstattung spiegelt daher nicht (oder nicht in erster Linie) die tatsächliche Beruhigung einer vor allem um ihr eigenes Wohlergehen besorgten und moralisch indifferenten Bevölkerung wider, sondern das Abklingen einer Kampagne, die aus Sicht des Regimes nach der effektiven Ausschaltung der Juden aus Wirtschaft und Gesellschaft und der wiederhergestellten öffentlichen Ruhe ihren Zweck erfüllt hatte. Jetzt traten andere Themen in den Vordergrund.

Die »Judenfrage« nach Beginn des Zweiten Weltkrieges
    An der schon ab März 1939 feststellbaren relativen Zurückhaltung in der antisemitischen Propaganda änderte sich auch in der Zeit zwischen Kriegsausbruch 1939 und dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im Sommer 1941 grundsätzlich nichts. Der Kriegsbeginn im Herbst 1939 bedeutete zwar eine erhebliche Verschärfung der antijüdischen Politik: Während die deutschen Juden verstärktem Verfolgungsdruck ausgesetzt waren, bekamen die etwa zwei Millionen polnischen Juden, die im von den Deutschen besetzten Gebiet wohnten, in noch viel stärkerem Maße die Härte des Regimes zu spüren. 1 In der Propaganda fand diese weitere Radikalisierung der Verfolgung jedoch nur sehr begrenzten Widerhall. Dafür gab es verschiedene Gründe:
    Bereits mit dem Novemberpogrom hatte das Regime, indem es das Attentat des Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten vom Rath als Vorwand nahm, eine Verbindung zwischen der angeblichen äußeren Bedrohung des Reiches durch das »internationale Judentum« und dem Schicksal der deutschen Juden hergestellt. Der Zusammenhang zwischen Krieg und weiterer Verschärfung der Verfolgung wurde, wie wir gesehen haben, wenige Monate nach dem Pogrom in Hitlers notorischer Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 noch expliziter formuliert: Im Falle eines erneuten Weltkrieges sei mit der »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« zu rechnen. 2 Bis Mitte 1941 erinnerte die deutsche Propaganda indes nur gelegentlich an diese Drohung. 3 Die politische Führung des »Dritten Reiches« erwog zwar seit Kriegsbeginn Pläne, die ganz offensichtlich auf eine physische Vernichtung der Juden unter ihrer Kontrolle hinausliefen, sie konnte sich jedoch nicht entschließen, diese Pläne in die Tat umzusetzen. Dies sollte erst geschehen, als der Krieg 1941 tatsächlich zum Weltkrieg ausgeweitet wurde.
    Die Juden in Deutschland – entrechtet, verarmt, vollkommen von der übrigen Bevölkerung isoliert – ließen sich propagandistisch als Bedrohung kaum noch instrumentalisieren. Neue Verbote, die den jüdischen Lebenskreis weiter einschränkten, wurden daher vorzugsweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit direkt an die jüdischen Gemeinden weitergeleitet. 4 Über die Auswanderung – vor Kriegsbeginn das Hauptziel des Regimes – sollte überhaupt nicht mehr berichtet werden; 5 zwar hatte man die Absicht, die »Judenfrage« durch Auswanderung (besser gesagt: durch Vertreibung) zu »lösen«, offiziell noch nicht aufgegeben, der Krieg vereitelte aber die Durchführung in größerem Umfang. Dies wollte man vor der Bevölkerung ebenso verborgen halten wie die Tatsache, dass die Alternative, über die man jetzt verstärkt nachdachte – die Deportation der europäischen Juden in ein »Reservat« -, ebenso wenig umzusetzen war: Solche Pläne, die sich zunächst auf Polen, dann auf Madagaskar und ab Anfang 1941 auf die zu erobernden sowjetischen Gebiete bezogen, galten grundsätzlich als Geheimsache und waren demnach für die Propaganda tabu. 6 Die propagandistische Zurückhaltung in der »Judenfrage« – Zurückhaltung immer vor dem Hintergrund der aggressiven Kampagnen der vergangenen Jahre – spiegelte demnach die verfahrene Situation wider, in die sich die Politik manövriert hatte.
    Auch die katastrophale Situation der polnischen Juden veranlasste das Regime nicht, mögliche radikale »Lösungen«

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